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Von Dirk Becker: Ein prallsattes Jubelfest L’Arpeggiata und Freunde im Nikolaisaal
Christina Pluhar hätte es wissen müssen. Niemand lässt einen Philippe Jaroussky ohne Applaus gehen.
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Christina Pluhar hätte es wissen müssen. Niemand lässt einen Philippe Jaroussky ohne Applaus gehen. Gerade hatte der französische Countertenor Monteverdis „Ohimè, ch’io cado“ und „Sì dolce è l tormento“ gesungen, besser gesagt, einen dieser Momente geschaffen, der wie aus Raum und Zeit gefallen schien. Es folgte nur ein Hauch von Pause, Christina Pluhar schlug auf ihrer Theorbe die ersten Töne von Bertalis Chiacona an und Jaroussky ging zurück zu seinem Stuhl.
Doch es dauerte nur ein paar Sekunden bis die Spannung im Saal riss und, Sakrileg hin, Sakrileg her, ein erstes Klatschen in die Musik sprang. Das schwoll an zu einer Applauswoge, die durch die Zuschauerreihen auf die Bühne rollte und Christina Pluhar und den Musikern von L’Arpeggiata keine Chance ließ: Unterbrechung; Jaroussky zurück an den Bühnenrand. Und der erhielt einen von Jubel durchtränkten Zwischenapplaus, wie ihn die meisten Musiker nicht einmal am Ende ihres Programms erleben dürfen.
Samstagabend im ausverkauften Nikolaisaal. Das Ensemble L’Arpeggiata und Freunde mit dem Programm „All’Improvviso. Ciaconne, Bergamasche – e un po’di Folie. Zwei Stunden lang ein musikalisches Fest, wie es nur selten zu erleben ist. Neun Musiker, zwei Sänger und eine Tänzerin, mehr brauchte es nicht, um Musik zu dem Zauberwort werden zu lassen, wie sie es in ihren besten Momente, in den Händen ihrer wagemutigsten Jünger werden kann. Der Zwischenapplaus nach jedem Lied ein enthemmtes Jubeltier. Erst nach vier Zugaben verließen die Musiker endgültig die Bühne. Es hätten noch vier mehr sein können, das Publikum wäre immer noch nicht zufrieden gewesen.
Es gibt immer noch genug Leute, die über die Alte-Musik-Fraktion die Nase rümpfen und ihre Vorurteile pflegen von verbiesterten Vergangenheitshuldigern, die stur auf ihren Darmsaiten fiedeln und deren Evangelium „Historische Aufführungspraxis“ heißt. Christina Pluhar hat sich der Renaissance- und Barockmusik mit Haut und Haaren verschrieben. Mit dem von ihr gegründeten Ensemble L’Arpeggiata zeigt sie seit Jahren auf überzeugendste und klangverherrlichende Weise, wie frisch und zeitlos diese „alte“ Musik klingen kann. Pluhar kennt keine Grenzen, keine epochenbedingten Abschnitte. Für sie ist das alles Musik. Und so holt sie mit größter Selbstverständlichkeit den Jazz in ihr Ensemble, weil alles im Grunde auf einem Prinzip beruht: Der Improvisation.
Das Publikum liebt die Pluhar dafür. Der Laie entdeckt eine so kraftstrotzende, leb- und liebevolle, so farbenfrohe und burleske, so tränenreiche und lachsatte Welt. Der Experte mag sich gelegentlich zieren ob der Dreistigkeit, mit der das Ensemble L’Arpeggiata und seine Freunde die Konventionen aus dem Saal scheuchen. Am Ende lässt er doch alle Zweifel fahren, schätzt sich glücklich und sagt: Dankeschön.
Der Abend im Nikolaisaal wurde so zu einem Bekenntnis. Ob Ciaccona, Folia oder Tarantella im brodelnden Ensemble L’Arpeggiata, ob die so charmante und wunderbar rigorose Sängerin Lucilla Galeazzi, der so herzlich-lässige Jazzklarinettist Gianluigi Troversi, ob die tobende Tänzerin Anna Dego oder Philippe Jaroussky, dessen Gesang einen in die Knie zwingen kann: Bei diesen Menschen ist die Musik immer ein prallsattes Jubelfest auf das Leben. Glücklich darf sich schätzen, wer bei diesem Konzert dabei war.
Dirk Becker
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