Kultur: Ein Roman erklärt nicht gleich die Welt
Joachim v. Hildebrandt über Afghanistan am Helmholtz-Gymnasium
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Joachim v. Hildebrandt über Afghanistan am Helmholtz-Gymnasium Von Dirk Becker Sie kommen zurück. Von einer schleichenden Machtübernahme der vor zwei Jahren gestürzten Taliban im Südosten Afghanistans war erst gestern in einigen Tageszeitungen die Rede. Die als besiegt geglaubten, radikalen Gotteskrieger wieder auf dem Vormarsch, auf den die USA mit einer ihrer vielen Gegenoffensiven antworten will. Einen aktuelleren Aufhänger hätte der Potsdamer Schriftsteller Joachim v. Hildebrandt, der gestern im Helmholtz-Gymnasium vor Schülern der 12. Jahrgangsstufe über Afghanistan unter den Taliban sprechen wollte, nicht finden können. Doch Hildebrandt ließ dies unerwähnt. Vielleicht wusste er es nicht, wie er so manches nicht zu wissen schien. Im Rahmen der Reihe „Wider das Vergessen“, in der deutschlandweit Schriftsteller anlässlich des 9. Novembers mit Schülern ins Gespräch kommen, war Joachim v. Hildebrandt in das Helmholtz-Gymnasium eingeladen worden. Doch nicht um den 9. November als historisches Datum sollte es gehen, so Schuldirektor Dieter Rauchfuß. Unter anderem Tagespolitik näher zu bringen und so die kritische Auseinandersetzung mit Ideologien zu fördern, darum habe man sich für das Thema der Talibanherrschaft entschieden. Die Anzahl der Sachbücher, die sich mit dem Afghanistan von früher und heute auseinandersetzen, ist mittlerweile schwer überschaubar. Doch Hildebrandt entschloss sich zur Einführung in das Thema für den Roman „Die Schwalben von Kabul“. Seine für die Frankfurter Rundschau geschriebene, durchweg positive Rezension las er vor. Dass die Geschichten zweier Ehepaare im Kabul der 90er Jahre, deren Wege sich auf seltsame Weise kreuzen, vom Autor Yasmina Khadra mit einer kraftvollen und bildreichen Sprache beschrieben wird, wie Hildebrandt feststellt, kann unwidersprochen hingenommen werden. Doch wenn Hildebrandt von Wirklichkeitsnähe der Geschichten spricht, dann ist das mehr als problematisch. Denn „Die Schwalben von Kabul“ sind eher ein klischee- und kitschsattes Märchen aus einem fremden und wildgewordenen Orient. Die Figuren sind alles andere als psychologisch stimmig oder gar glaubwürdig, wie Hildebrandt behauptete. Zwar gelingt es dem 1956 geborenen, algerischen Autor Mohammed Moulessehoul, der sich wegen seiner Algerien kritischen Romane lange hinter dem weiblichen Pseudonym Yasmina Khadra verstecken musste, gewisse Zustandsbeschreibungen vom talibantyrannisierten Kabul als Vorhof der Hölle erschreckend spürbar zu beschreiben. Doch taugt dies noch lange nicht, um bei diesem Buch von einer realistischen Beschreibung der Zustände in Kabul unter den Taliban zu sprechen. Fast bruchlos ging Hildebrandt auf das heutige Afghanistan über, um zu fragen, wie sich dieses Land wohl in Zukunft entwickeln würde. Seine Rezension als hinreichende Einleitung sollten sich die Schüler prophetisch geben. Kein Wort zur Geschichte des Landes am Hindukusch, die vielleicht als kurzer Überblick bestimmte Phänomene, wie den sprichwörtlich unbändigen Freiheitsdrang der Afghanen, hätte erklären und so die Grundlage für ein konstruktives Gespräch werden können. Doch Hildebrandt nahm lieber ein weiteres Buch – Jellouns „Papa, was ist der Islam?“ zur Hilfe, um Begriffe wie „Islam“, „Fanatiker“ oder „Fundamentalist“ zu klären. Spätestens jetzt wurde die fehlende tiefere Auseinandersetzung mit den Besonderheiten des nahöstlichen Raumes bei Hildebrandt überdeutlich. Da half auch das beständige Klammern an den Begrifflichkeiten nicht viel. Hier übernahm dann der Lehrer Henning Hake die sich schon leicht entwickelnde Diskussion unter den Schülern. Beherzt und oft auch sehr emotionsreich, ab und an den Advocatus diaboli gebend, lockte er seine Schüler aus der Reserve und zeigte, dass diese die weitaus intelligenteren Bemerkungen zu diesem Thema geben konnten. Ob nun universell geltende Menschenrechte, das Verständnis von Kultur, das Für und Wider von Einflussnahme von außen auf die Entwicklung eines Landes, die dabei in der Realität entstehenden Probleme wurden hier ziemlich klar, manchmal vielleicht etwas verkürzt, erkannt und auf einem erstaunlichen Niveau diskutiert. Hildebrandt stand bei diesem Gespräch dann nur noch eine Nebenrolle zu. Auf ein Schlusswort bestand Joachim v. Hildebrandt noch und las aus „Die Schwalben von Kabul“ ein paar schwere Sätze über die Macht der Liebe und suggerierte so, dass hier die Liebe über das Böse siegen würde. Doch bei Khadra siegt nur einer: Der Tod.
Dirk Becker
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