Kultur: Ein Titel, der in die Irre führt
Olga Grjasnowa bei „Transnationale Literatur“
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Und auf einmal gab es doch eine enttäuschte Stimme aus dem Publikum: „Ich hätte jetzt etwas über die russische Seele erwartet, über Tolstoi, wir hatten doch früher auch viel mit Russen zu tun“, macht sich eine ältere Dame Luft. Olga Grjasnowa wirkt verwirrt, aber auch ein bisschen amüsiert. Immerhin ist da jemand in die Titelfalle getappt, was ja auch beabsichtigt war. Der Titel ihres Debütromans sei doch nur eine Metapher auf Zuschreibungen zu Personengruppen – „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ lautet er, mit Türken oder Persern würden doch ganz andere Assoziationen geweckt.
„Transnationale Literatur“ lautet der Auftakt der Lesereihe im Waschhaus am Mittwoch, welche den angenehmen Effekt hatte, eine kultur-literaturwissenschaftliche Vorlesungsreihe in die rotbeleuchtete Partylocation in die Schiffbauergasse zu „trans“ferieren. Die Lesung baut auf ein Seminar der Universität Potsdam über deutsch-jüdische Gegenwartsliteratur auf, es geht um Transkulturalismus und Globalisierung, sperrige Begriffe, die nicht so recht zu Grjasnowas beschwingt-juvenilem Auftritt passen wollten. Olga Grjasnowa wurde letztes Jahr der Star der Leipziger Buchmesse, bekam den Anna-Seghers-Preis und berichtete für die ARD über den Eurovision Song Contest in ihrer alten Heimatstadt Baku. Es drängte sich ja auch geradezu auf, dass ihr Roman zumindest stark autofiktionale Züge transportiert. Stimmt ja gar nicht, klärte sie jedoch das Publikum auf.
Olga Grjasnowa liest ein Stück aus ihrem Roman, sie liest mit Bedächtigkeit und wohldosierten Pausen, kurze, pointierte Sätze. Ihr Deutsch ist akzentfrei, man merkt nur ab und an das charakteristische R der slawischen Sprachen, das kurz über die Zungenspitze rollt und vornüber kippt. Die Szene spielt im Krankenhaus, diese Reduktion auf die Sterilität, in der die Protagonistin Mascha ihr Leben reflektiert, während ihr Partner nebenan nach einem Oberschenkelbruch bei einem Fußballspiel an einer Fettembolie stirbt, wirkt gleichzeitig tragisch und brutal. „Es war für die Konstruktion wichtig, dass Elias stirbt“, sagt sie. Und für den notwendigen Effekt des Romans war ein sanfter Tod vonnöten: „Eine Fettembolie ist zwar selten, klingt aber literarisch frisch.“
Mascha ist der zielstrebige Prototyp der europäischen Generation, der erfolgreich ist und sich pluralistisch verortet, sie lernt sämtliche Sprachen, besonders die romanischen, um Übersetzerin bei den UN zu werden. Doch sie hat ein Trauma, das sie mit sich herumträgt und das nach Elias‘ Tod ausbricht. Da steht ein politischer Konflikt im Hintergrund, es geht um den Bergkarabach-Konflikt Anfang der 90er Jahre, den Genozid an der armenischen Minderheit in Baku. Das Ausbrechen dieses Traumas führt sie in eine Identitätssuche, die bis nach Israel führt. Die Autorin selbst führt schon lange eine intensive Beziehung zu Israel, reflektiert aber auch den Konflikt zu der politischen Institution. Sicherlich lassen sich dabei Parallelen zwischen der Autorin und ihrer Protagonistin feststellen, das Wandeln zwischen den Kulturen, Migrationsbewegungen, Akklimatisierungsversuche. „Dass ich ein Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung bekommen habe, wirft aber irgendwie ein falsches Licht auf meinen Roman“, so Olga Grjasnowa. „An den Begriff Grenze habe ich beim Schreiben nicht einmal gedacht.“ Oliver Dietrich
Oliver Dietrich
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