Kultur: Ein ungezähmter Spaß
Zum Abschluss der Saison wird Potsdams Kultur noch einmal alles geben – bei „Stadt für eine Nacht“
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Es ist die Frage für Potsdam überhaupt, die Sfen diesmal stellt. Sfen ist kurz und steht für „Stadt für eine Nacht“, dieses 24-Stunden-Festival, das die Schiffbauergasse einmal im Jahr in ein Traumtänzer-Paradies verwandelt. In einen Ort, an dem Kunst und Leben verschmelzen und an dem sich – freiem Eintritt sei Dank – wirklich allen begegnen können. Jung, alt, arm, reich, liberal oder konservativ. Und genau das bringt das Thema in diesem Jahr auf den Punkt: „Zukunftsmusik – wie wollen wir leben?“ schließt nicht nur erst mal alle Potsdamer ein, sondern auch alle, die gerade erst hier ankommen. Die noch Potsdamer werden wollen. Also: Wie können Geflüchtete integriert werden? Das ist ein Aspekt, ein anderer dürften die – noch immer – unüberwindlichen Gräben zwischen Alt, Neu und Neo-Alt sein, die Potsdam nicht nur politisch, sondern auch kulturell spalten.
Wie widersprüchlich – oder auch wie nah sich – die Vorstellungen der Potsdamer von einem guten Leben sind, soll ein Illustrationsprojekt zeigen. Worum es dabei geht, zeigt schon das Plakat. 100 Motive sind darauf zu finden: das Rechenzentrum ebenso wie der Einsteinturm, Radfahrer und Hochleistungssportler, Hunde und Straßenbahnen sowie die Symbole der drei Religionen. Judentum, Christentum, Islam. Einzeln sollen sie in gut einer Woche – Sfen findet vom 16. bis 17. Juli auf dem Gelände der Schiffbauergasse statt – auf Postkarten verfügbar sein. So kann sich jeder rauspicken, was für ihn wichtig ist und sie so aneinanderreihen, dass eine eigene Vision der Stadt entsteht. Träumen nach dem Baukastenprinzip.
„Ein Wimmelbild der Stadt“, nennt es Tobias Wellemeyer, Intendant des Hans Otto Theaters und damit neben Sven Till von der Fabrik und Birgit Katherine Seemann vom Fachbereich Kultur der Stadt, verantwortlich für das Programm. Zu dem hat das Hans Otto Theater natürlich einiges beizutragen: 20 Programmpunkte, darunter die beiden aktuellen Produktionen „Das schwarze Wasser“ und „Illegale Helfer“ – die sich beide mit den Themenkomplexen Flucht, Vertreibung, Integration und Zusammenleben beschäftigen. Wer Härteres als die dramaturgische Überhöhung verträgt, kann im Foyer Filme sehen, die Geflüchtete mit ihren Handys auf dem Weg nach Europa aufgezeichnet haben.
Das kleine Format feiert das Festival ohnehin – anders hätten die Besucher eh keine Chance, auch nur einen Bruchteil der 101 Konzerte, Inszenierungen, Performances und Lesungen zu erhaschen. Die Fabrik hat sich diese Idee zu eigen gemacht und zeigt auf ihrer Bühne das Programm „pop Up“ – kurze Tanzstücke von maximal 15 Minuten, die Unbekanntes, Unerwartetes, Schräges aufploppen lassen. Gerade lange genug, um dem Denken einen Schubs in eine neue Richtung zu geben. Das, sagt Wellemeyer, ist ja überhaupt die Idee von Sfen: Urlaub machen im Kopf. Also, sich treiben – und dabei auf Neues einlassen. Nicht den immer gleichen Pfaden in die immer gleichen Institutionen folgen. Sich in der temporären Stadt, die hier aus Zelten aus dem Boden gestampft wird, verlieren.
30 000 Potsdamer haben sich im vergangenen Jahr darauf eingelassen, haben zusammen geschaut, gelauscht, gestritten und gefeiert. Klar, das Tanzen darf man nicht vergessen: Am frühen Samstagabend etwa kann man zusammen mit dem israelischen Choreografen Tomer Zirkilevech in der Fabrik improvisieren, etwas später in der Arena des Waschhauses auf Rollschuhen ins süße Disco-Koma gleiten.
So schafft man es dann vielleicht auch, durchzuhalten bis zum Sonntagmittag. Das Programm geht ja immer weiter und zum Sonnenaufgang am Tiefen See schafft man es ja dann doch nicht alle Tage. Es sei denn eben, man stolpert gerade zum Morgenyoga in der Fabrik. Bisschen entgiften kann nach einer Stadt-Nacht nicht schaden.
Auf gar keinen Fall verpassen haben sollte man vorher – mitten in der Nacht – das Live-Hörspiel der HOT-Schauspieler Florian Schmidtke, Eddie Irle und Peter Wagner sowie dem Beatboxer und Soundtüftler Nils Broszka. Die haben sich diesmal schweren Stoff vorgenommen und Shakespeares „Titus Andronicus“ vertont. Wer ihre anderen Hörspielproduktionen kennt, weiß, was für anarchischer, ungezähmter Spaß das ist. Eigentlich genau so, wie das ganze Festival. Einmal im Jahr muss das drin sein. Auch in Potsdam. Ariane Lemme
„Stadt für eine Nacht“ findet statt vom 16. bis 17. Juli zwischen 14 und 14 Uhr auf dem Gelände der Schiffbauergasse
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