
© Archiv
Kultur: Ein Zimmer für mich allein
Die Potsdamer Schriftstellerin Antje Rávic Strubel sucht und schaut dabei in anderer Leute Zimmer
Stand:
Ein Freund erzählte mir, er schreibe einen Roman über eine Notärztin, die in einem Rettungswagen mitfährt. Er sei selbst schon öfter mitgefahren. Das Spannende sei nicht die Rettungsaktion der Leute, die Herzinfarkte haben oder epileptische Anfälle oder nur hyperventilieren. Das Spannende seien die Wohnungen, zu denen man ungeschützten Zutritt habe. Der Notfall trifft die Menschen unvorbereitet. Sie haben keine Zeit, aufzuräumen, sauber zu machen, ihre Sachen zu sortieren. „Das Leben springt einen gewissermaßen an“, sagte dieser Freund. „Es ist so echt, wie du es nie zu Gesicht bekommst.“ Er will ein Sittengemälde schreiben. Ein Porträt dieser Zeit. Die blitzartigen Eindrücke vom Einbruch in fremde Leben sind sein Material. Schriftsteller nutzen immer jemanden aus, sagte die große amerikanische Autorin Joan Didion. Sie hat recht. Aber es ist auch ein bisschen einseitig. Wenn dieser Freund sein Buch veröffentlicht hat, werden sich alle diese Leute wiedererkennen. Sie werden sich wiedererkennen wollen – „Genauso war’s!“, wird es heißen. Oder in milder Herablassung: „Naaa, da hast du aber ein bißchen übertrieben!“ Selbst im erbosten Ausruf: „Das stimmt so nicht!“ steckt noch die Genugtuung gestärkten Selbstgefühls, egal, ob’s wahr ist oder eingebildet.
Schriftsteller wissen, dass zwischen dem, was gemeinhin als Wirklichkeit gilt, und dem, wie diese Wirklichkeit im Buch erscheint, eine große Lücke klafft. Dass die Wirklichkeit bestenfalls eine Startrampe ist, hinein in die Sprache, die einen weiterträgt wie die Luft die Spatzen, dorthin, wo man mit eigenem Flügelschlag nie hingelangen würde, jenseits der Wirklichkeit mit ihren Stereotypen und Restriktionen. Denn das Leben, das einen anspringt, ist zumeist ein alter Hund, ermattet schon im Anlauf. Erst, wenn der Hund gefüttert wird mit Fantasie, wenn er gefährlich, undurchschaubar oder zu einer Elefantin geworden ist, wenn das Schreiben ihn verwandelt hat, entwickelt er ein interessantes Schillern. Aber mein Freund ist ein halber Isländer. Und Isländer haben ihr graues Vulkangestein und die kargen Hochebenen zu Optimisten gemacht.
Auch ich breche seit einiger Zeit in fremde Leben ein. Ich suche ein Zimmer für mich allein. Eine Arbeitswohnung, ein kleines Atelier mit Aussicht. Das ist in Potsdam nicht ganz leicht. Kleine Ateliers mit Aussicht sind bei jungen Paaren oder älteren Singles sehr beliebt. Werden sie zum Verkauf angeboten, ist sicher schon der Scout eines Kapitalanlegers vor einem da. Ganze Straßenzüge gehören längst Leuten aus Bayern oder Baden-Württemberg, die nie einen Fuß aufs preußische Kopfsteinpflaster der Nauener oder der Jägervorstadt gesetzt haben, das sie sukzessive teurer machen. Ich habe einen Zu-Vermieten!-Schilder- Blick entwickelt, unterteile Potsdam in Quadratmeterpreise, die in den letzten fünf, sechs Jahren in der Innenstadt um sechs Prozent, in Babelsberg um drei Prozent gestiegen sind. Morgens sind meine E-Mails überschwemmt mit Angeboten von Immoscout, viele unbrauchbar: Erdgeschoss, Hinterhof, Berliner Zimmer. Oder: Dachgeschoss, kniehohe Fensterluken, dreißig Quadratmeter, kein Balkon. Manchmal wurde aus einer Abstellkammer noch ein Zimmer gemacht, amerikanische Küche! heißt es dann, bodentiefe Fenster!, Die liegen allerdings im Erdgeschoss und gehen auf die Großbeerenstraße oder die Breite Straße hinaus, ich könnte mich also auch gleich mit meinem Computer in die Straßenbahn setzen. Die Wohnungen im Holländerviertel haben dieses originelle Treppchen vom vorderen ins Hinterzimmer, sind aber entweder hochpreisig, werden an Leute mit dem zeitgeistigsten Potsdam-Job vergeben wie Klimafolgenforscher, Molekularbiologin, IT-Ingenieurin, oder beides. Noch habe ich nichts gefunden. Und da fahre ich schon zweigleisig; ich ziehe auch das Kaufen in Betracht, obwohl nicht sicher ist, ob ich mir das leisten kann. „Mach es!“, höre ich erfahrene Freunde sagen, „so günstig kriegst du nie wieder einen Kredit.“ Nur sind diese Freunde keine Freiberufler. Sie leben nicht wie jene freie Journalistin, die für eine große Tageszeitung eine Reportage über die abgewickelten Schlecker-Frauen geschrieben hatte. Nachdem sie fertig war, hängte sie ihren Job an den Nagel. Ihr war klar geworden, dass ihr Stundenlohn viel geringer war als der bei Schlecker. Ich weiß, man soll sich immer am Höheren orientieren. Doch manchmal fehlt mir da der isländische Optimismus.
Die Wohnungen, die ich sah, waren aufgeräumt, geputzt, Wohnungen, in denen die Menschen darauf vorbereitet waren, dass Fremde einen Blick hineinwarfen. Privates war in Schubladen verschwunden. Kein T-Shirt lag herum, keine alte Socke. Die Spüle blitzte. „Wenn du dir das hier mal mit fremden Augen beguckst, dann weißt du, wie es wirklich aussieht“, sagt meine Mutter öfter. Sie sagt es immer dann, wenn sie meinen Vater davon überzeugen will, dass sie dringend tapezieren müssen. „Die Tapete ist ja schon ganz grau!“ Mein Vater sagt darauf gewöhnlich, er wisse nicht, wie man mit fremden Augen gucke, er habe nur seine eigenen (Tapeziert wird meistens trotzdem). Beide haben recht. Meine Mutter hat erkannt, dass der fremde Blick gefährlich ist. Er erfasst Dinge, die einem selbst verborgen bleiben. Denn noch im Aufgeräumten pulsiert das sogenannte echte Leben. Es stellt sich sogar aus. Warum beispielsweise war in einer Wohnung in der Nauener Vorstadt das Lexikon der neueren deutschen Geschichte so prominent platziert? Lag in der Geschwister-Scholl-Straße David Bowie nur zufällig ganz oben auf dem CD-Stapel, der zu einem so dekorativ verdrehten Turm auf den Dielen arrangiert war, als müsse hier nie gesaugt werden? Und hängt in der Berliner Vorstadt der Fritz Klemm immer im einzigen Sonnenfleck an der Wand? Verrücken sie das Bild, wenn die Sonne weiterwandert? Was ist mit den Keramik-Bierkrügen mit Naturreliefs im Regal über der Veloursofalandschaft in Potsdam-Waldstadt? Werden sie jeden Tag so akkurat auf Kante angeordnet und antiseptisch staubbefreit? Und war es wirklich absichtslos, die Wäsche im Bad in Potsdam-West nicht abzunehmen, die sich bei genauerem Hinsehen als Bettwäsche von Joop erwies?
Mein Vater hat ebenfalls recht. Man kann immer nur mit eigenen Augen gucken, nie mit fremden.
In einer Wohnung, die ich wegen der guten Lage zwischen Broadway und Park Sanssouci hätte mieten wollen, füllten Schwarz-Weiß-Fotografien weiblicher Dekolletés die Wände. Kinn und Hals waren auf den Fotos zu sehen und die Hände der Frau, die ihre Brüste anhob, so daß sie sich zusammenschoben zu einem verführerischen fotogenen Rund. Während ich Fenster, Lichteinfall und Größe des Balkons begutachtete, fiel mir auf, dass Kinn und Hals zu jener Frau gehörten, die diese Räume noch bewohnte und mir gerade erklärt hatte, dass sie sich hier ein kleines Nest geschaffen habe, kuschlig. „Man kann abends schick noch einen Weißwein auf dem Balkon trinken, und dann geht die Sonne glutrot hinter der Kirche unter.“ Die Brüste auf den Fotos waren ihre. Was denkt sie, dachte ich, wenn beim Aufwachen ihr Blick darauf fällt? Erfreut sie sich daran, ist sie stolz? Wird die Freude über den Anblick zu einer körperlichen Freude? Konstatiert sie jeden Morgen das Vergehen der Zeit, indem sie Fotos und Fleisch vergleicht? Erinnert es sie daran, dass sie eine Frau ist, was sie sonst vergessen würde? Oder erinnert sie sich, dass sie einmal davon träumte, ein berühmtes Fotomodell zu werden und es noch immer werden kann? Vielleicht spürt sie auch nur Erleichterung jeden Morgen angesichts der Erkenntnis: Das ist mein Körper, in dem ich hause, das bin ich, die hier wohnt. Hätte diese Frau mit meinen Augen sehen können, hätte sie die Fotos wahrscheinlich abgehängt. Das Leben, das mich da ansprang, war zwar kein alter Hund, drängte mich aber schön kuschlig aus der Wohnung.
Ich weiß nicht, wie fremde Augen meine Zimmer sehen. Mein halber Isländer hat mich noch nie besucht. Ich sollte ihn einladen, bevor er mit dem Rettungswagen kommen muss. Ich werde für ihn das Cocktailtischchen vorteilhaft ins Licht rücken und die kreative Unordnung auf meinen Schreibtisch noch ein bisschen steigern. Aber vielleicht würde er nur die Rauhfasertapete bemerken. Sie hängt schon hier seit meinem Einzug. Potsdam ist mit Rauhfaser durchtapeziert, weiß oder ocker gestrichen. Rauhfaser ist praktisch, wurde mir gesagt, und praktisch ist im Brandenburgischen eine unschlagbar wertvolle Eigenschaft. Manchmal wird das Weiß in einem Selbstverwirklichungsanfall mit einer aufgemalten Blumenbordüre auf Augenhöhe aufgelockert oder mithilfe von Leuchtsternen über Betten und an Badezimmerdecken. Bei mir dunkelt es nur langsam ein.
Meine Zimmer gleichen weder der Ikea-Leichtholzmöbelwohnung mit weißem Setzkasten-Bücherschrank und dicken Brettern in der Küche, auf denen Biomüsli und grüne Kaffeetassen stehen, noch der etwas angestrengten Einrichtung der Plüsch- und Schrankwandwohnung am Stadtrand. Ein Fusselteppich umspielt dort bleiche, moderne Möbelhausvitrinen, von denen jeder Stil weitgehend abgeschmirgelt wurde, die aber immer zu viel Platz einnehmen. Meine Räumlichkeiten sind auch nicht mit jenen Kirschholzmöbeln zugestellt, die, auf Antiquität getrimmt, nach ziemlich frischen Leimen riechen, wie ich es im Weberviertel sah, inklusive Weinregal.
Ich bilde mir ein, mein Wohnungsstil sei locker skandinavisch. In Stockholm oder Helsinki, wo der Quadratmeter dreimal so teuer ist wie hier, geht man nachlässiger damit um. Als würde der Wert auch die Sensibilitäten steigern, lässt man den Raum wirken. Man dichtet ihn nicht ab, um im Rückzug vor der Welt „die Seele baumeln zu lassen“ (eine Formulierung, bei der ich immer einen Galgen vor Augen habe). Die Fenster öffnen sich gardinenlos der Stadt. Und man versteht, dass ein schöner Stuhl seine Wirkung nicht entfalten kann, wenn er zwischen Kommode und Sofa vor einen rollbaren Fernsehschrank gequetscht und mit fünf Kissen beladen wird. In einer Siebzig-Quadratmeter-Wohnung für die Mittelschicht, die in Stockholms Södermalm für eine halbe Million Euro angeboten wurde, war ein weißer Jugendstilofen der Blickfang des Zimmers. Und es standen keine Zinnbecher, Topfpflanzen, Bierkrüge darauf, es gab keine Duftkerzen, Deckchen oder Öllämpchen. Es gab nur diesen Ofen und ein kleines Ledersofa vor einem schlichten Tisch. Großzügig soll das Leben sein; nicht gemütlich.
Ich bin gespannt, ob in den Augen meines Freundes ein Wiedererkennen aufblitzt. Ich möchte, dass er sich wiedererkennt, weil ich möchte, dass es hier „wirklich so aussieht“, wie mein eigener Blick mir suggeriert und keine große Lücke klafft zwischen meiner Wirklichkeit und seiner. Auch Island gehört ja irgendwie zu Skandinavien. Nur wie gesagt: Ich bin nicht besonders optimistisch.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: