Kultur: Ein zynischer Haudrauf Die Bonmotmaschine Nagel im Waschhaus
Wenn der Punk zum Poeten wird und mit seiner neu gewonnenen Passion unter die Leute geht, um sie mit ihnen zu teilen, dann ist das Rock’n’Roll. Das jedenfalls erlebten die, die sich die Donnerstagabendlesung mit Nagel, gebürtiger Westfale und ehemals Sänger, Texter und Gitarrist der Punkband Muff Potter, ins Ausgehprogramm geschrieben hatten.
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Wenn der Punk zum Poeten wird und mit seiner neu gewonnenen Passion unter die Leute geht, um sie mit ihnen zu teilen, dann ist das Rock’n’Roll. Das jedenfalls erlebten die, die sich die Donnerstagabendlesung mit Nagel, gebürtiger Westfale und ehemals Sänger, Texter und Gitarrist der Punkband Muff Potter, ins Ausgehprogramm geschrieben hatten.
Obwohl Herrenumhängetasche, Notebook von Apple, O-Saft und Facebookmitgliedschaft alles andere als Punk sind, blieb der Mittdreißiger, der bereits 2007 mit „Wo die Wilden Maden graben“ sein Debüt feierte, irgendwie trotzdem bei sich.
In den letzten Tagen hatte der großzügig tätowierte und trotzdem jungenhafte Künstler, der bereits im Herbst im Potsdamer Waschhaus lesen sollte, aus Krankheitsgründen aber absagen musste, sich erst einmal wieder eingegroovt auf die Lesung aus seinem neuen Buch „Was kostet die Welt“, das vor einigen Monaten bei Heyne Hardcore erschienen war. Um deutlich zu machen, wie genau er wieder in Stimmung gekommen war, hatte er Bilder und Anekdoten der letzten sieben Tage dabei, die ihn als zynischen Haudrauf entlarvten und einen unterhaltsamen Abend versprachen.
Im Gegensatz zu seinem Romanhelden Meise, den er auch als Neurosenzüchter betitelt, der eher maulfaul bleibt und sich am besten aufs Abhängen und Saufen versteht, ist Nagel eine Bonmotmaschine, der der Mund nicht still steht, die ironisiert, übertreibt und von Herzen lästert.
Augenscheinlich hatte es ihm vor allem der allgemeine Hang zum Phrasendreschen angetan und so nahm er diesen sozusagen ordentlich auf’s Korn.
Das sorgte für allgemeine Erheiterung, die nach der Rauchpause für die Schmachtlungen, die sich zwischendurch unbedingt eine Fratzenfackel ins Gesicht stecken mussten, noch eine Steigerung erfuhr. Nagel holte sich mit Luise aus Berlin nicht nur Verstärkung für eine szenische Lesung aufs Podest, sondern spielte, sozusagen zum Veranschaulichen, auch ein paar Songs von seinem iPod ab, die die gerade gelesene Szene im Festzelt einer Weinkirmes im Moseltal besonders originalgetreu ins Publikum übertragen sollten. So kam man in den Genuss von „Cowboy und Indianer“ oder „Tausendmal berührt“, nach denen Nagel, so gut das im Sitzen eben geht, ordentlich abrockte.
Dabei war der Held des Buches eigentlich ein Antiheld, eine traurige Figur, die, nachdem sie das Erbe des Vaters beim Reisen durchgebracht hatte, plötzlich nichts mehr mit sich anzufangen weiß. Da hilft auch der letzte Ausflug ins Moseltal nicht, der Meise damit konfrontiert, dass er sich die Frage stellt, wie er (nicht) leben möchte.
Doch geschickt wählt der Autor Stellen im Buch, die weniger melodramatisch erscheinen, lässt das Ende offen und schafft so den größtmöglichen Anreiz, das Buch unbedingt besitzen zu wollen, um zu sehen, ob doch noch alles gut wird. Wenn nicht, darf man den Autoren auch gern ansprechen, dann schreibt er in das gerade erworbene Exemplar mit Vergnügen ein alternatives Ende.Andrea Schneider
Andrea Schneider
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