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Kultur: „Eine Liebeserklärung an den Großvater“

Tilman Rammstedt hat ein Buch über eine fantastische Reise geschrieben – heute liest er in Potsdam

Stand:

Herr Rammstedt, warum durch die Welt reisen, wenn man eine gute Fantasie hat?

Ach, ein wirklich guter Ersatz fürs Reisen ist die Fantasie ja nun auch nicht. Aber sie kann ein schöner Trost sein, wenn man gerade nicht wegkommt.

Keith Stapperpfennig aus Ihrem Roman „Der Kaiser von China“ aber erlebt in seiner Fantasie eine wundervolle Reise, wie er sie in der Wirklichkeit wohl kaum möglich wäre.

Deswegen ist diese Reise auch ein schöner Trost, denn sie bietet Möglichkeiten, die die Realität nicht hat. In der Fantasie ist das Wetter immer gut, gibt es keine Kakerlaken im Hotel und auch keine Zugverspätungen. Aber wenn es wirklich interessant werden soll, nimmt man das auch in Kauf und erlebt dabei viel mehr Abenteuer, als die Fantasie bieten kann.

Keith macht sich nicht freiwillig auf die Fantasiereise durch China. Er hat das Geld für ihn und seinen Großvater verspielt und muss nun, unter seinem Schreibtisch sitzend, glaubwürdige Briefe an seine Geschwister von der Reise schicken. Beflügelt eine solche Zwangssituation die Fantasie?

Diese ganze Chinareise fängt ja als Notlüge an und entwickelt erst dann immer mehr ein Eigenleben. Dabei wird sie nicht nur immer fantastischer, sondern auch eine Liebeserklärung an den eigenen Großvater. Und eine Trauerarbeit, in die Keith all das einfließen lässt, was er über seinen Großvater nicht weiß oder sich nicht erklären kann.

Sind das nur Leerstellen, die Keith mit seiner fantastischen Chinareise füllen will.

Auch, aber er versucht jetzt Eigenschaften seines Großvaters, die ihn früher genervt haben, in den Briefen mehr und mehr als etwas Positives darzustellen.

Obwohl für den Leser die Verhältnisse in Keith Stapperpfennigs Familie weniger negativ, sondern herrlich chaotisch anmuten. Der Großvater zieht die fünf Enkel allein auf und wechselt ständig die Frauen, die immer jünger werden.

Wie bei vielen chaotischen Verhältnissen ist es immer davon abhängig, ob man drauf schaut oder dazu gehört. Keith hat unter der Dominanz seines Großvater sehr gelitten. Wenn er seine Freundinnen mit nach Hause brachte, wurden die gleich vom Großvater in Beschlag genommen. Und wenn wir dem Keith alles glauben wollen, ging es sogar soweit, dass es kleine Mordanschläge des Großvaters auf seine Enkel gab.

Eine übergroße Großvater- und gleichzeitig Vaterfigur, aus dessen Schatten Keith nie heraustreten kann. Für dieses so schwierige und auch belastende Thema haben Sie eine sehr leichte Sprache gewählt und erzählen mit viel Humor.

Das ist natürlich alles überspitzt. Denn der Großvater ist ja nicht nur Großvater- und Vaterfigur, sondern auch Mutterfigur und gleichzeitig Konkurrent. Dieser Großvater ist einfach omnipräsent und ich habe versucht, mit ihm alle Rollen auszufüllen. Da ist es einfach extrem schwer, aus dessen Schatten zu treten. Und so wird die Chinageschichte auch eine Art Befreiung, weil Keith in diesem ausgedachten Leben seines Großvaters endlich einmal über ihn bestimmen kann.

Warum wählt der Großvater, der in seinem Leben nie weit gereist ist, nicht einmal Deutschland verlassen hat, ausgerechnet das ferne China als Reiseziel? Ahnt er schon seinen Tod und will noch ein großes, ungewöhnliches und letztes Erlebnis?

In den Monaten vor dieser geplanten Reise beginnt ein zunehmender körperlicher Verfall des Großvaters. Er versucht zwar alle möglichen Tricks, den Tod zu überlisten. Trotzdem ahnt er sehr genau, dass es bald vorbei sein könnte. Und vielleicht ist die Reise in dieses absolut Fremde, das China ja für ihn ist, auch ein Vorbereiten auf den Tod.

Sie haben für einen Ausschnitt aus der „Kaiser von China“ im vergangenen Jahr den Bachmann-Preis gewonnen. Sibylle Lewitscharoff hat für ihren Roman „Apostoloff“ gerade den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten. In beiden Büchern geht es um das Reisen. Was macht ausgerechnet diese Form von Reiseliteratur so preisverdächtig?

Ich habe das Buch von Sybille Lewitscharoff bisher leider noch nicht lesen können. Aber ich weiß, dass es darin auch um eine Abrechnung mit einem Vater geht. Insofern könnte man annehmen, dass es da Parallelen gibt. Ich hoffe aber und glaube, dass das Thema nichts damit zu tun hat, dass diese beiden neben anderen Büchern ausgezeichnet wurden.

Das Gespräch führte Dirk Becker

Tilman Rammstedt liest heute, 20 Uhr, im Waschhaus, Schiffbauergasse. Eintritt: 7, ermäßigt 5 Euro.

Tilman Rammstedt wurde 1975 in Bielefeld geboren und lebt in Berlin. Er studierte u.a. in Edinburgh, Tübingen und Berlin.

Er ist Gewinner des renommierten Bachmann-Preises 2008.

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