Kultur: Eine Plage
Anja Maier entlarvt Berliner „Muttertiere“
Stand:
Nachdem sich die Lachwogen etwas gelegt haben, mit denen das Publikum fast jede ihrer vorgelesenen Passagen quittiert, setzt Anja Maier das Highlight ihrer Lesung. Positiv genug sei die Grundstimmung ja, stellt sie schmunzelnd fest und warnt dennoch vor der „Tirade der Tanja D.“, dem bereits seit seiner Vorabveröffentlichung heftig umstrittenen Kapitel ihres aktuellen Buches „Lassen sie mich durch, ich bin Mutter. Von Edel-Eltern und Bestimmerkindern“ (Bastei Lübbe, 8,99 Euro). Derbe und kernig, im rotzigsten Berlinerisch regt sich da eine Caféhauschefin im Prenzlauer Berg über das Gewimmel der flanierenden „Muttertiere“ auf. Das seien alles „Rinder“, die sich nicht mehr kämmten und kaum etwas bestellten, mit ihren sperrigen Kinderwagen jedoch stundenlang alles blockierten und permanent ihre Kinder stillten, sodass alte Stammgäste Reißaus nähmen. Welch eine an Deftigkeit kaum zu überbietende und keinesfalls ausgedachte Suada, die da ausgegossen wird.
Wäre die Raumluft im überfüllten Café „11-Line“ am Freitagabend nicht so dünn gewesen, Anja Maier hätte wahrscheinlich ihr ganzes Buch vorlesen können, so groß war der Zuspruch, so festlich das Gejohle, so ausgelassen die Laune des bunt gemischten Publikums. Denn was die Journalistin im Frühjahr 2011 während ihrer dreimonatigen Recherche in ihrem einstigen Heimatbezirk erlebt und in 43 kolumnenartigen Kapiteln zusammengetragen hat, zeugt von einer sehr treffenden Beobachtungsgabe, einem Faible für ironisch-witzige Überzeichnungen und nicht zuletzt von einem urgesunden Sinn für Humor. Mit spitzer Feder zeichnet Maier das komische und doch lebensechte Bild einer Kleinstadt inmitten der Hauptstadt, den Berliner Bezirk Prenzlauer Berg, dessen schillernde Kulturszene einst von weit her jene anzog, die heute dort in teuren Eigentumswohnungen leben und durch Bürgerinitiativen Clubs schließen lassen, um in beschaulicher Ruhe ihre Familien gründen zu können. Ein Stück Realsatire.
Gern folgt man Anja Maier auf ihren Spaziergängen durch diese kuriose Provinzidylle. Auf den Kollwitz-Markt etwa, wo eine Armada aus gespenstisch klingender Bionahrung und Ökoprodukten, kratzige Wollwickelröcke und allerlei Esoterikkrimskrams feilgeboten wird. In Scharen schieben die ältlichen und meist ernst dreinblickenden „Macchiato-Mütter“ in nachtschwarzen 1000-Euro-Kinderwagen ihren lärmenden Nachwuchs stolz wie eine Trophäe vor sich her. Die kleinen Blagen geraten zu pausenlos hofierten „Bestimmerkindern“, werden mithin zum Projekt erklärt, dem sich alles, aber auch alles unterzuordnen hat. Eltern genießen einen Sonderstatus, der sie von Umsicht und Höflichkeit befreit und es ihnen auch gestattet, ihre verfehlte Erziehungskompetenz in die Öffentlichkeit zu verlagern. Nur wer hier ohne Kind unterwegs ist, erntet böse Blicke. Und ein paar übrig gebliebene Trinker, die rauchend in einer Ecke stehen, gilt es eiligst den Garaus zu machen. Gesund und sauber ist es dagegen im Eltern-Kind-Café „Kiezkind“ auf dem Helmholtzplatz, wo den kursgetrimmten Kleinen eine Tasse Babyccino kredenzt wird und es würzig nach vollen Windeln riecht.
Auf immer wieder umwerfend amüsante Weise versteht es Anja Maier in „Lassen sie mich durch, ich bin Mutter“, humorvoll und ironisch überspitzt, ganz normale Verrücktheiten zu entlarven. Einigen ist sie damit gehörig auf den Schlips getreten. Am Freitagabend erhält sie rauschenden Beifall und statt Fragen etliche Signierwünsche. Daniel Flügel
Daniel Flügel
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: