Kultur: Eine sentimentale Sehnsucht Ungarisches
im Nikolaisaal
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Schluchzen und Schmachten eines Zigeunerprimas, wenn er der Sehnsucht nach Sentimentalität herzzerreißende Klänge verleiht. Charme und Temperament bis in die Fußspitzen, wenn er mit einem feurigen Csardas zum Tanze aufspielt. An Klischees mangelt es wahrlich nicht, wenn man glaubt, dieser oder jene habe „Ungarn im Blut“. Unter diesem Motto unternahm das Brandenburgische Staatsorchester Frankfurt unter Leitung des dirigentischen Linkshänders Simon Gaudenz im Rahmen der „Klassik am Sonntag“-Reihe im ausverkauften Nikolaisaal einen Ausflug in magyarische Klanggefilde. Inklusive jener Suche nach Landleben als Flucht aus der Großstadthektik, die viele Komponisten einst gar heftig betrieben. Moderator Clemens Goldberg erwies sich dabei als ein sachkundiger Erläuterer.
Fündig wurden die Tonsetzer, so sein Hinweis, in der Volksmusik: in authentischen Liedern und Tänzen, wie sie auf dem Anger, in der Schenke, bei dörflichen Festen erklangen. Die einen machten große Kunst daraus, andere verloren sich dabei in klingendem Kitsch. Letztere Spezies blieb an diesem Nachmittag erfreulicherweise unberücksichtigt. Munter ging es durch einen geographischen Mix, der so nur im einstigen österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaat möglich gewesen war. Nicht so genau mit ethnischen Grenzen nahm es George Enescu in seiner Rumänischen Rhapsodie Nr. 1 A-Dur op. 11, in der er sich von karpatozigeunerischer Folklore zu mitreißenden Klängen inspirieren ließ.
Das von Enescu effektvoll beschriebene Treffen von Volksmusikern beginnt mit kecken Rufsignalen der Klarinette (Christian Krech). Dann gesellen sich Oboen und „Fiedeln“ hinzu, bis alles in ein turbulentes Tutti mündet. Nun kann das Landtreiben in allen Facetten tollen und tanzen – tänzerisch federnd, mit kleinen sentimentalen Pausen. Als alles in einen Taumel der Lebensfreude kulminiert, schält sich dem kundigen Ohr jene jubilierende „Lerchen“-Melodie“ heraus, die Panflötisten und Violinvirtuosen als ein Bravourstück gilt. Pianisten ist’s, in diesem Zusammenhang, sicherlich Franz Liszts A-Dur-Klavierkonzert, dessen sehnsuchtsvoller Beginn die Keimzelle ständiger thematischer Verwandlungen darstellt. Nachdem das Thema klangschön durch die Bläser exponiert ist, beginnt zwischen Orchester und dem Solisten Markus Groh ein raffiniertes Wechselgespräch in quasi sinfonischen Verschlingungen. Zart und nachsinnend, dann wieder kraftdonnernd, um wenig später abrupt zur sanft streichelnden Tastengeste zu finden. Gewissermaßen Zuckerbrot und Peitsche. Eine hinreißende Wiedergabe, die auf die technische Perfektion, den klaren Anschlag des Solisten setz, der selbst die rauschendsten Oktavgänge durchhörbar hält. Mit einer Schumann-Zugabe dankt er dem Beifall.
Ohne sentimentalen Klarinettengesang kommt auch die Einleitung der „Tänze aus Galánta“ von Zoltán Kodály nicht aus. Auch sie huldigen ähnlicher Machart: mehr oder weniger effektvoller Auftritt von Bläsersolisten, temperamentvolles Gemeinschaftserlebnis (volles Orchester), wirkungsvoller Abgang. Fünf Ungarische Tänze von Johannes Brahms, abschließend erklingend, folgen ähnlichem Muster. Auch da geben sich die Musiker genüsslich dem Rubato hin, kann der Triangelist (Matthias Buchheim) seine sensible Anschlagskultur vorführen, begeistert insgesamt der sonore, gedeckte brahmsische Farbenreichtum. Temperamentvoll, fast lärmend endete dieser applausfreudig belohnte Ungarntrip. Peter Buske
Peter Buske
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