Interview mit Mickaël Phelippeau: „Eine unglaubliche Präsenz“
Ein Stück über eine ganz besondere Zeit - und einen ganz besonderen Jungen. Mickaël Phelippeau bringt bei den Tanztagen sein Solo für einen 15-Jährigen auf die Bühne.
Stand:
Herr Phelippeau, Sie kommen mit „Pour Ethan“ zu den Tanztagen, einem Solo-Stück für einen 15-Jährigen. Was war zuerst da: Die Idee oder Ethan selbst?
Letzteres. Ich traf Ethan 2008 das erste Mal. Ich bin Direktor eines kleinen Tanzfestivals für Amateure in Guissény in der Bretagne. Er stammt von dort, und als ich dort das erste Mal hinkam, hörte ich ihn singen. Er war ganz allein auf der Bühne und ich war sehr berührt von seiner Performance. Zuerst wirkte er sehr zerbrechlich, aber nach einer Weile wurde seine Stimme kräftiger. Vor zwei Jahren fragte ich ihn dann, ob er mit mir arbeiten wolle. „Warum nicht“, antwortete er. Ich wusste in dem Moment noch nicht, ob es ein Solo oder ein Duett für uns beide werden sollte. So arbeite ich oft – dass ich jemanden treffe, mit dem ich dann unbedingt ein Projekt machen will. Vor zwei Jahren choreografierte ich ein Duett für mich und einen Priester. Und auch wenn „Pour Ethan“ ein Solo-Stück ist, war es doch dieselbe Art, auf die ich oft zu meinen Protagonisten komme.
Mickaël Phelippeau (Jg. 1978) arbeitet seit 1999 arbeitet als Choreograf. Seit 2010 ist er künstlerischer Leiter des Festivals à Domicile in Guisseny, wo er auch Ethan Cabon traf.
Sie suchen also nach Menschen, die Sie auf die eine oder andere Art inspirieren?
Ja, und mit „Pour Ethan“ habe ich deshalb auch kein Stück über das Erwachsenwerden, über die Teenagerzeit gemacht – sondern über seine, über Ethans Teenagerzeit. Es ist tatsächlich eher ein Porträt über ihn.
Was hat Sie an Ethan so überzeugt?
Als ich ihn fragte, ob er mit mir arbeiten wolle, zeigte er mir ein Video, das er als Abschlussarbeit für seine Schule gemacht hatte. Ein Selbstporträt, ein getanztes! Er antwortete quasi mit seinem Körper. Das war völlig verrückt und sehr lustig, er tanzt darin, was er mag – etwa Mathematik. Und das sehr symbolisch, sehr figürlich, er kreuzte etwa die Arme für das Additionszeichen und so fort. Oder er schrieb den Namen seines Lieblingsschauspielers, Jean Dujardin, mit Ellenbogen und Nasenspitze in die Luft. Ich sagte ihm, dass ich mit ihm Dinge abstrahieren würde – und wir begannen zu arbeiten.
Das klingt, als wäre er tatsächlich ein ungewöhnlicher Junge. Doch schon Erwachsene brauchen eine starke Persönlichkeit, um ein Solo-Stück zu bestreiten. Hatten Sie nie Angst, dass er das nicht schaffen könnte?
Doch. Zu Anfang war ich mir nicht sicher, ob er das hinbekommt, eine ganze Stunde alleine auf der Bühne. Aber nach einer Woche war mir klar, dass er das packt. Ich hatte ihn ja schon mit anderen Choreografen auf dem Festival erlebt – und seine Stärke.
Die worin liegt?
Er hat eine unglaubliche Präsenz. Schon als ich ihn auf dem Festival in Gruppen zusammen mit anderen tanzen sah, wanderte meine Aufmerksamkeit immer zu ihm. Jeden Moment auf der Bühne ist er im Hier und Jetzt, egal ob er gerade spricht oder singt oder tanzt. Ich denke, das ist der Punkt. Deshalb sagt er in den Textpassagen des Stückes auch nie exakt dasselbe. Inhaltlich ja, aber er variiert den Satzbau, die Reihenfolge und so fort. Er bezieht jedes Mal den Kontext mit ein, die jeweils ganz spezielle Situation. Er nimmt sich auch jedes Mal Zeit vor der Aufführung, um sich zu sammeln. Ich denke, das ist seine große Stärke: in Kontakt mit der Gegenwart zu sein.
Das klingt zumindest nicht nach einem typischen 15-Jährigen
Ja, er ist schon sehr reif für sein Alter. Er ist kein Tänzer, hat keine Ausbildung, seine Bewegungen sind im tänzerischen Sinne nicht perfekt und das weiß er auch. Aber er hat seine eigenen Bewegungen, seine Art zu tanzen. Ihm ist klar, dass das eben keine Schwäche, sondern eine Stärke ist.
Weil es ihn authentisch macht?
Ja.
Woher nimmt er das, diese Präsenz, diese Hingabe an den Augenblick?
Ich weiß nicht, woher es kommt. Ich denke, was ihm hilft ist, dass er eigentlich gar kein Tänzer werden möchte. Das nimmt eine Menge Druck. Aufgeregt war er vor den Aufführungen bisher ein einziges Mal: als sein Großvater, der Direktor seines Lycees und sein Handballtrainer kamen. Aber ob andere Choreografen, Leute vom Fach, kommen, das interessiert ihn wenig.
Hat er je Tanzunterricht gehabt?
Nein, nicht regelmäßig, nur auf dem Festival, das zwei Wochen im Jahr stattfindet.
Haben Ihre eigenen Erfahrungen aus dieser Zeit eine Rolle gespielt, als Sie das Stück schrieben?
Zu Anfang ließ ich ihn improvisieren, bestimmte Dinge mit dem Tanz ausdrücken – ein Porträt seiner Mutter oder seiner kleinen Schwester. Das Rohmaterial kam also von ihm. Dann schrieb ich die Choreografie und stellte mir dabei vor, wie ich in seinem Alter getanzt hatte, und verglich das mit seiner Art zu tanzen. Insofern gab ich natürlich auch etwas an ihn weiter.
Die Teenagerzeit ist für die meisten schwierig, aber auch besonders intensiv – wie finden sich diese Herausforderungen und das Unwiederbringliche im Stück wieder?
Darum dreht sich ja im Grunde die Arbeit. Ich habe ihn am Anfang gefragt, ob es in Ordnung für ihn sei, mit diesen Veränderungen zu arbeiten. Es gibt etwa diese Szene, in der er ganz hoch singt – ein traditionelles Bretonisches Lied – quasi als Souvenir des Abends, an dem ich ihn zum ersten Mal sah. Es ist ein sehr langes Lied und in dessen Verlauf wandert die Stimme – peu à peu – ein paar Tonlagen tiefer, bis er seine heutige Stimmlage erreicht hat. Für mich ist das ein Symbol für die Veränderung, die er durchgemacht hat. Schon jetzt ist es unmöglich für ihn, die höchsten Töne zu erreichen. In einem Jahr wird diese Szene vollkommen anders klingen.
Haben Sie Angst, dass er es in einem Jahr nicht mehr cool finden könnte, zu tanzen? Dass er keine Lust mehr hat?
Als wir anfingen, befreundeten wir uns auch auf Facebook – und er bat mich, niemals Bilder seines Tanzes dort zu posten. Er wollte nicht, dass seine Freunde das sehen. Inzwischen hat er ihnen aber davon erzählt. Sie sind auch zu Aufführungen gekommen. Aber anfangs hatte er wirklich Angst, dass seine Freundin das mitbekäme. Als wir in Brest auftraten, sagte ich ihm aber, dass er sie einladen und sie mir vorstellen müsse.
Wie hat sie reagiert?
Sie war natürlich völlig hingerissen!
Das Stück verändert sich mit Ethan. Gibt es ein Zeitlimit für Sie – oder würden Sie es irgendwann mit einem anderen Jugendlichen neu zu inszenieren?
Das ist auch meine Frage. Ich weiß es nicht. Wir haben Verträge bis nächstes Jahr, dann ist er 16. Dann wird man sehen. Ich möchte gerne mit Ethan weiterarbeiten, aber wenn er 20 Jahre alt ist, wird es womöglich keinen Sinn ergeben, dieses Stück weiterzuzeigen, das sich ja mit dem Erwachsenwerden beschäftigt. Aber dasselbe Stück mit einem anderen Jugendlichen – ich weiß nicht. Der müsste dann ja auch Ethan heißen. Nein im Ernst, es ist ja ein Stück für ihn. Ich habe eine junge Tänzerin getroffen, die so alt ist wie Ethan – aber viel erwachsener. Und das komplette Gegenteil von Ethan, sie hat etwa eine sehr warme, tiefe Stimme, ist eine sehr versierte Tänzerin. Mit ihr würde ich gerne arbeiten, aber es wäre etwas völlig anderes. Eine Art Gegenstück zu „Pour Ethan“.
Das Interview führte Ariane Lemme
Die Potsdamer Tanztage finden noch bis zum 1. Juni in der „fabrik“, Schiffbauergasse 10, statt. „Pour Ethan“ wird am Freitag und Samstag um 19 Uhr aufgeführt
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