Von Daniel Flügel: Einnehmend
Karasek bot in der Urania kompakte Präsenz
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Den Blumenstrauß müsse er zurückgeben, denn seine Frau weile derzeit in New York. Doch den großen Bildband über die polnische Stadt Bielitz-Biala, den Hellmuth Karasek am Dienstagabend zum Abschluss seiner Lesung in der Urania vom Vorstandsvorsitzenden Hans Oleak überreicht bekam, wolle er nicht mehr hergeben. Es war dies tatsächlich ein berührender Moment. Als Kinder waren beide, Ende Dezember 1944, fast zur selben Zeit mit ihren Familien vor der heranrückenden Roten Armee aus dem damals schlesischen Bielitz geflohen. Da hätten sie sich zwar noch nicht gekannt, doch fühlten sie sich durch dieses Fluchterlebnis auf besondere Weise miteinander verbunden, so Karasek schon eingangs seiner Lesung, die für die gut 100 Gäste sicherlich viel zu kurz ausgefallen sein mag.
Denn der bekannte Literaturkritiker ist immer auch ein Unterhaltungskünstler, ein Mann, der es kraft seiner sympathisch einnehmenden Redseligkeit, seiner kompakten Präsenz, fast spielend versteht, einen ganzen Saal an sich zu bannen. Lebhaft und humorvoll, sei es auch nur nach einem kurzem Blick auf ein altes Stalin-Plakat an der Ausstellungswand, sprudeln die Anekdoten nur so aus ihm heraus, noch bevor er überhaupt aus seinem 2004 erschienenen Buch „Auf der Flucht“ zu lesen beginnt. Und selbst dann flechtet er fortwährend, frei und flüssig, spontane Gedanken und oftmals heitere Kurzepisoden ein, so dass alles nahtlos, wie aus einem Guss erscheint.
Es sind nur zwei, drei Kapitel aus dem ersten, zweifellos gelungensten Abschnitt seines Buches, die er als Vorleser gemächlich, mit einer warmen, leicht fragenden und unangestrengten Stimme präsentiert. Fast romanhaft und dank einer sehr plastischen, auf Details fixierten Sprache entfalten sich die Kindheitserinnerungen, ersteht die Lebenswelt des 10-Jährigen, der in einem nationalsozialistisch geprägten Elternhaus aufwächst und daselbst, in Bielitz, 1944, dem Weihnachtsfest entgegenfiebert. Minutiöse Beschreibungen der Wohnungseinrichtung beschwören eine vergangene Welt, in der der junge Karasek heimlich nach seinen Geschenken stöbert, während in der Badewanne Karpfen schwimmen, über dem Kamin ein gerahmtes Himmler-Foto hängt und im Schlafzimmer die Flakons der Mutter stehen, mit ihren seidenumhüllten Gummibällen und den langen Quasten. Kaum einer im Saal, der diese kleinen Parfümfläschchen nicht plötzlich vor sich sieht, nostalgisch lächelt oder leise nickt. Ein anschaulich erzähltes Gestern, Stück für Stück wie aufgefädelt.
Es folgen Schulepisoden, erste Lektüreerlebnisse, frühpubertäre Abenteuer, gewissenhaft und doch so augenzwinkernd geschildert, dass Karasek gleich wieder aus dem Stehgreif noch einen Schub Anekdötchen dranhängt, als hätte ihn die gute Stimmung im Publikum darin nur bestärkt. Und auch wenn später die derben, ja grausamen Beobachtungen, die das Kind entsetzt und gleichsam staunend beim Dorffleischer macht, die Gäste sicher nicht erheitern und eher wie ein abschließendes Gegenbild wirken, lässt Karasek doch keine Sekunde Betroffenheit aufkommen. Fast plaudernd und lesend zugleich kommt er zu jüngeren Erinnerungen, steht darin schnell wieder als Humorist, obendrein noch als begnadeter Witzerzähler und als vielleicht bester Imitator Marcel Reich-Ranickis da. Kurzum: als jemand, dessen geradezu eiliger Abschied nach nur gut einer Stunde von vielen der herzlich Applaudierenden als bedauerlich empfunden wird.
Daniel Flügel
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