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Kultur: „Er definierte seine Rolle als Unzeitgemäßer, als verspäteter Bürger“

Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler spricht bei der heutigen 8. Brandenburgischen Literaturnacht über den Schriftsteller Sándor Márai

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Frau Löffler, Ende 1942 fängt der 42-jährige Schriftsteller Sándor Márai mit dem Tagebuch-Schreiben an. Es ist gleichzeitig der Beginn eines Abschieds, denn über ein Jahr später entschließt sich der so populäre und in den 1930er Jahren meistgelesene Schriftsteller Ungarns, nicht mehr journalistisch zu schreiben und auch nicht mehr zu publizieren. Was war passiert?

Da kommen persönliche und politische Gründe zusammen. Márai fand, das journalistische Schreiben falle ihm zu leicht und beschädige seine schriftstellerische Substanz. Deshalb zog er sich als Publizist zurück. Und nach dem Einmarsch der Deutschen in Ungarn im März 1944 weigerte er sich, unter Nazi-Okkupation zu publizieren und untersagte jede Veröffentlichung seiner Werke. Bis Kriegsende schrieb er nur für die Schublade.

Was zeichnet den Tagebuchschreiber Sándor Márai aus?

Das Tagebuch war die literarische Form, die Márais Talent und Temperament am meisten entsprach. Er war ein unbestechlicher Zeuge, Chronist und Kommentator seiner Zeit, bis zu seinem Tod 1989.

Was unterscheidet ihn von anderen, Tagebuch schreibenden Schriftstellern?

Sándor Márai ist sehr diskret, er beobachtet die Welt, glossiert Menschen und Zeitläufte, nicht aber sich selbst. Er spart sein Privatleben und die Menschen seiner nächsten Umgebung zumeist aus – anders als etwa Thomas Mann oder Robert Musil.

Was erzählen uns die Tagebücher Sándor Márai, die neben seinen zahlreichen Romanen als sein bedeutendes Werk gelten?

In seinen Journalen reflektiert Márai über die Defizite der ungarischen Gesellschaft im Kontext Europas, und über seine eigene Identität als Ungar, als Bürger und als Schriftsteller. Er definiert seine Rolle als Unzeitgemäßer, als verspäteter Bürger und letzter Zeuge der Kultur Alteuropas. Und im Exil suchte er vor allem die ungarische Sprache und Kultur zu bewahren, als Ein-Mann-Sprachinsel.

Was für ein Mensch tritt uns in diesen Tagebüchern gegenüber, die jetzt in einer neuen Edition vom Piper-Verlag herausgegeben werden?

Sándor Márai verfügt über den scharfzüngigen Sarkasmus, die Skepsis und den gnadenlosen Witz des geborenen Pessimisten. Er nimmt den Leser durch seine Bildung, seine scharfe und amüsante Beobachtungsgabe und sein präzises Urteil für sich ein.

Es sind viele kritische, verdammende und wütende Töne, die in diesen Tagebüchern anklingen. Spricht da Weltekel, Resignation aus Márai?

Márai hatte wenig Grund, seine ungarischen Landsleute zu schonen. Allzu genau konnte er ihr feiges und opportunistisches Verhalten im und nach dem Krieg studieren. Er geißelte die politischen Stehaufmännchen unter jedem Regime. Er hasste und verachtete die Mitläufer und Wendehälse, die sich als willige Vollstrecker an die Nazis genauso anbiederten wie an die Sowjets und sich ihrer eigenen Mitschuld am Holocaust nie stellten.

Warum verstummte er nicht vollends, stellte sich fortan schweigend dem Elend der Welt gegenüber?

Er war ein Schriftsteller auf der Höhe seiner Denk- und Sprachkraft. Was hätte er sonst tun sollen als sein Schreibamt zu praktizieren?

Wie persönlich kann das Tagebuch eines Schriftstellers überhaupt sein, der doch immer davon ausgehen muss, „dass einst auch diese vertraulichen Zeilen eines Teil seines Werkes sein werden“, also öffentlich werden, wie der Franzose Jules Renard schrieb?

Márai war sich der Mit- und der Nachwelt als imaginärer Mitleserin seiner Journale immer bewusst und hat viel über Praxis und Ethos und über die Aporien des Tagebuch-Schreibens nachgedacht. Seine Formel lautet: Der Diarist beichtet der Menschheit, er muss wissen, dass ihm Gegenwart und Zukunft zuhören. „In diesem Bewusstsein muss er sein Tagebuch schreiben, ohne Vorbehalte und Scham, aufrichtig, so gut es geht.“

Was ist das überhaupt für eine Form des Schreibens?

Das Tagebuch ist eine offene, ungemein durchlässige und schnelle Prosaform. Sie ist glossierend, kommentierend, fragmentarisch, punktuell, selten erzählerisch ausholend.

Lange galt der Romanschreiber Sándor Márai auch in Deutschland als ein fast schon verschollener Autor. Erst zehn Jahre nach seinem Tod wurde er 1999 vor allem durch seinen Roman „Die Glut“ wieder entdeckt. Worin liegt diese plötzliche Popularität Márais begründet, die bis heute anhält?

Natürlich hat die Márai-Renaissance viel mit Nostalgie zu tun, einer Sehnsucht nach der kultivierten Bürgerlichkeit des alten Kakanien. Aber Márai ist eben nicht nur ein Repräsentant des alten Österreich-Ungarn, sondern auch ein wortmächtiger Weltverurteiler und Weltverunglimpfer im Stile eines Thomas Bernhard. Das macht sogar Márais antiquierte Eheromane durchaus wieder lesbar.

Das Gespräch führte Dirk Becker

Sigrid Löffler spricht am heutigen Samstag, ab 19 Uhr, im Rahmen der 8. Brandenburgischen Literaturnacht in der Reithalle A, Schiffbauergasse, über die Tagebücher von Sándor Márai, der Schauspieler Jon-Kaare Koppe liest dazu Ausschnitte. Schon um 18.30 Uhr liest die Potsdamer Schriftstellerin Elisabeth Richter, gegen 21 Uhr liest Ferdinand von Schirach aus seinem Debüt „Verbrechen“ und gegen 22.30 Uhr die Potsdamerin Frederike Frei

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