zum Hauptinhalt

Kultur: Erinnerung in Worten und Stimmen

Lutz Seilers neuer Erzählband „Turksib“

Stand:

Sie ist gerade einmal 15 Seiten lang, Lutz Seilers Erzählung „Die Anrufung“. Der Zeilenabstand ist großzügig, die Schrift, nicht wie üblich, klein. Da ist viel Luft auf den Seiten in dem schmalen Erzählband „Turksib. Zwei Erzählungen“. Titelgebend ist die Erzählung, mit der der im Wilhelmshorster Ernst-Huchel-Haus lebende Lutz Seiler im vergangenen Jahr den renommierten Bachmann-Preis gewann. Damals hatte Seiler noch den Zusatz „Auszug aus einem langen Prosatext“ angefügt. Jetzt steht die Erzählung nicht mehr nur als Fragment, das auf mehr hoffen lässt. Zwei Erzählungen auf wenigen Seiten, was aber nicht heißt, dass es sich bei diesem Buch um ein kurzweiliges Lesevergnügen handelt.

Seilers Prosa merkt man den langjährigen Lyriker an. Schon nach wenigen Sätzen wird hier ein Ton angeschlagen, entstehen ausdrucksstarke Bilder, die oft nur Gedichten innewohnen. Hier begegnet einem das übliche Paradox guter Literatur: Mittels einfachster Sprache entstehen die klarsten und überzeugendsten Bilder. Sind es in „Turksib“ Bilder von einer Reise mit dem Zug durch eine winterliche, radioaktiv verstrahlte Landschaft in Kasachstan, sind es in „Die Anrufung“ Bilder einer Universitätsprüfung zum Thema Schönheit, die abgleitet in die Kindheitserinnerungen des Prüflings.

Seiler entfaltet dabei eine Sogwirkung, die den Leser langsam aber unerbittlich in das Geschehen zieht. Erinnerung, gebunden an Worte und Stimmen, ist in beiden Erzählungen ein Grundmotiv. Während in „Turksib“ der Erzähler im engen Waggondurchgang auf den Heizer des Zuges trifft, der mit dem deutschen Reisenden die verlorene Zeile aus dem vor vielen Jahren gelernten Anfang von Heinrich Heines Loreleylied wiederzufinden hofft, erinnert sich der Prüfling in „Die Anrufung“ an das Warten als Fünfjähriger an der heimischen Toreinfahrt. Er wartete auf die Zwillinge Kerstin und Andrea, um mit ihnen zu spielen. Obwohl sie am anderen Ende des Dorfes lebten, rief er immer wieder ihren Namen, bis es nicht mehr darum ging, sie herbeizurufen, sondern dem Eigenleben der gerufenen und durch diesen Ruf in die Länge gezogenen Namen nachzuspüren. Diese Rufe des Fünfjährigen gestalteten ihm das Dorf nach seiner Vorstellung, das vorher nur ein grauer, nichtssagender Flecken war. Wie Seiler hier mit der Sprache diese Erinnerungen malt, macht diesen schmalen Erzählband fast zu einem kleinen Wunder. Dirk Becker

Lutz Seiler: Turksib. Zwei Erzählungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, 46 Seiten, Bütten-Broschur, 12, 80 Euro

Dirk Becker

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })