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Kultur: Erinnerung ist, was man aus ihr macht

Antje Rávic Strubels neuer Roman ist mehr als nur beachtenswert / Heute Lesung im Waschhaus

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Antje Rávic Strubels neuer Roman ist mehr als nur beachtenswert / Heute Lesung im Waschhaus Von Dirk Becker Antje Rávic Strubels neuer Roman „Tupolew 134“ ist eine Wiederbegegnung. Das Jahr 1978, der Pechpfuhl in Ludwigsfelde, Katja Siems, Lutz Schobert und Hans Perkoff, der Ingenieur aus Westberlin, das alles sind Bekannte aus „Das Märchen von der selbst gewählten Entführung“, mit dem die Potsdamer Autorin 2001 den Ernst-Willner-Preis bei den Bachmann-Literaturtagen in Klagenfurt gewann. Ein Text, der mehr Fragment war, in dem sich das treibende Dreiecksverhältnis zwischen Katja, Hans und Lutz nur andeutete und der unscheinbare, aber so gewichtige Satz fällt: „Ich lebe nicht mehr gern so“. In „Tupolew 134“ haben sich Namen verändert, ist aus Lutz Schobert Schaper, aus Hans Perkoff Meerkopf geworden, sind andere Figuren wie die Freundin Verona und Katjas Vater Bernd Siems hinzugekommen. Doch Katjas „Ich lebe nicht mehr gern so“ ist hier noch gewichtiger, in seiner Konsequenz endgültiger geworden. Die Entführung eines sowjetischen Passagierflugzeuges der Marke Tupolew 134 durch zwei DDR-Bürger nach Berlin Tempelhof auf dem Flug von Gdansk nach Schönefeld im Jahr 1978 dient Antje Rávic Strubel als wahrer Hintergrund ihrer Geschichte. Katja und Lutz handeln aus Verzweiflung, weil der Westberliner Ingenieur Hans Meerkopf nicht wie versprochen am Gdansker Bahnhof ankommt und den beiden mit gefälschten Papieren die Flucht ermöglicht. Mit einer Spielzeugpistole gelingt die Entführung. Was folgt ist nicht die ersehnte Freiheit – wenn Katja und Lutz von diesem Gedanken je getrieben wurden – sondern ein langwieriger Prozess, der weniger ihre Schuldfrage klären, sondern das fragile politische Gleichgewicht zwischen Ost und West erhalten soll. Später, fast 25 Jahre danach, kehrt ein müde gewordener Lutz Schaper nach Ludwigsfelde zurück, in das die wiedervereinte Freiheit tiefe Spuren hinterlassen hat. Soweit das, was man in diesem Roman als Fakten bezeichnen kann. Ansonsten lässt die Autorin den Leser immer wieder stolpern. „Glauben Sie nicht, dass ich mir das ausgedacht habe. Glauben Sie noch weniger, dass es so passiert ist“, spricht gleich am Anfang der knapp 320 Seiten eine Stimme, Katjas vielleicht, die die gesamten Lektüre begleitet und das eben Gelesene als nur eine Möglichkeit von vielen in Frage stellt. Antje Rávic Strubel hat für die Struktur ihrer Erzählung das Bild eines Schachts gewählt. „Ganz unten“ beginnt die Geschichte in Ludwigsfelde, die Freundschaft zwischen Katja und Verona, der Ingenieur Meerkopf, in den sich Katja verliebt oder der nur Mittel zum Zweck sein soll und der noch blasse Schaper. „Unten“ dann die Zeit der Gerichtsverhandlung und der Versuch, im Westen Berlins Fuß zu fassen. „Oben“ der scheinbare Überblick über das, was geschieht. Doch immer mehr entwickelt sich dieser anfangs so klar strukturierte Schacht zu einem Labyrinth, verschwimmen Figuren, die erst so klar schienen, während andere mit steigender Seitenzahl Kontur annehmen. Antje Rávic Strubel versteht es, langsam aber stetig Verwirrung zu stiften. Wer hat die Fluchtpläne von Katja und Lutz verraten? War es die rätselhafte Verona oder Lutz Schaper selbst? Irgendwann hinterfragt man sogar die Verhaftung des Fluchthelfers Meerkopf, um dann festzustellen, dass in dieser fein gestrickten Verwirrung die einzige Gewissheit darin besteht, dass hier vieles nur als wahrscheinlich gelten kann. Denn Erinnerung ist immer nur das, was man aus ihr macht. „Tupolew 134“ ist Strubels vierter Roman, und um Längen auch der beste. Nach ihrem beachtenswerten Debüt „Offene Blende“ und den folgenden „Unter Schnee“ und „Fremd gehen“, die nach der Lektüre von „Tupolew 134“, auch wenn das hart klingen mag, wie Aufwärmübungen erscheinen, meldet sie sich nun mit einem sanften Paukenschlag zurück. Ein feiner, fast poetischer Ton, mit dem sie unaufdringlich aber eindringlich Stimmungen und Charaktere zeichnet. Ein Buch, das mit Ost und West deutsche Empfindlichkeiten thematisiert, ohne diese in den Vordergrund zu drängen. Antje Rávic Strubel geht es um die Menschen, ihre Suche, ihre Sehnsüchte, ihre Lieben. Um den Versuch, einem überdrüssigen, zu eng gewordenen Leben zu entfliehen, um dann zu merken, dass das neue manchmal noch weniger passt. Dieser Roman zieht und treibt den Leser, und dieser bremst sich absichtlich, um die letzte Seite hinauszuzögern. Mit „Tupolew 134“ hat Antje Rávic Strubel ihren Weg gefunden. Mit ihr ist ernsthaft zu rechnen. Antje Rávic Strubel liest heute um 20 Uhr im Waschhaus aus „Tupolew 134“.

Dirk Becker

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