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Zurückhaltend. Der Bestsellerautor Sten Nadolny.

© Jan Woitas/dpa

Kultur: Erinnerungen an ein zweites Leben

Sten Nadolny las in der Druckerei Rüss

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Es mag seltsam klingen, aber das heimelige Dachbüro der Druckerei Rüss und der nicht aufhörende Regen draußen hinter den Fenstern bildeten eine wunderbar melancholische und philosophische Kulisse für die Lesung des Romanautoren Sten Nadolny, der am vergangenen frühen Samstagabend in Potsdam sein Buch „Weitlings Sommerfrische“ vorstellte. Diese Sommerfrische, so sollte das zahlreiche, meist schon etwas ältere Publikum schnell feststellen, war hier nicht wörtlich zu nehmen und würde also keinen Neid hervorrufen. Im Gegenteil.

Gleich zu Beginn der Lesung ließ der Autor (Jahrgang 1942), der 1983 mit seinem Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ zu erstem literarischem Erfolg gekommen war, seinen Helden, Wilhelm Weitling, Richter a.D., mit einem Segelboot in ein unangenehmes Unwetter geraten. Ein strahlend blaues Leuchten, ein schmerzhaft grelles Licht und ein Knall lassen Weitling erschreckt auf den Boden seines Bootes fallen. Als er sich erheben will, merkt er schnell, dass etwas anders ist als zuvor. Er vermisst das Ziehen im Rücken, das Schmerzen der Gelenke, die Alterserscheinungen seines Körpers.

Der Zuhörer erfährt an dieser Stelle, dass Sten Nadolny seine Hauptfigur eine Zeitreise machen lässt. Als Junge hatte Wilhelm schon einmal in dieser brenzligen Situation gesteckt – gefangen auf dem Chiemsee, Wind und Wetter ausgesetzt und kurz vor einem Unglück. Jetzt also soll Weitling dieses Geschehen noch einmal erleben, im Körper seines jugendlichen Alter Ego Willy. Das ist so erstaunlich wie befremdlich. Traum oder Wirklichkeit?

Nach der Rettung durch den Vater fragt sich der Geist ohne Physis, gekettet an sein jugendliches Abbild, wie er aus dieser Situation herauskommen könne. Wie sich bemerkbar machen? Eine Eingebung rät ihm den Versuch einer Kontaktaufnahme mit dem geliebten Großvater, ein Maler, Fedor von Traumleben – ein lyrischer Name! Und was so seltsam klingt, gelingt. Der Großvater reagiert auf den Geist Wilhelm. Eine Sommerfrische nennt er diesen Zustand, dieses Zurückversetztwerden in die Vergangenheit. Er selbst ist ebenfalls schon auf diese Weise gereist und erinnert sich an ein zweites Leben, ein Zusammentreffen mit Gabriele Münter und Freund Jawlensky, währenddessen man in Wiesen gestanden und Berge gemalt hatte.

Das beruhigt Wilhelm, beantwortet aber nicht seine Frage nach dem Zurück. Und noch etwas lässt ihn unsicher werden. Es sind Kleinigkeiten, Geschehnisse, an die er sich aus seiner Jugend erinnert, die aber nun nicht eintreffen. Er sorgt sich, denn er ahnt, dass diese Kleinigkeiten dafür sorgen können, dass die Zukunft einen anderen Verlauf nimmt.

Das Potsdamer Publikum ist gefangen genommen von Humor, Sprachwitz und der philosophischen Leichtigkeit der Geschichte. Auch nach der kleinen Pause findet es sich wieder vollständig auf seinen Plätzen ein. Schließlich steht die Frage nach Weitlings Rückkehr im Raum. Und das bange Hoffen auf eine unbeschadete Biografie der Hauptfigur erhöht die Spannung noch.

Sten Nadolny, der mit „Weitlings Sommerfrische“ beinahe eine Autobiografie geschrieben hat, in der man nicht nur seine Lebenseckdaten, sondern auch die der Eltern, Burkhard und Isabella Nadolny, wiedererkennt, ist ein Autor, dem das Sprachliche leicht von der Hand geht. Von großer Statur, gepflegt und mit freundlich lächelnden Augen, besitzt er eine angenehm zurückgenommene Art.

Was ihm an diesem Abend in Potsdam fehlt, ist eine geschickte Dramaturgie. Gefangen von der eigenen Geschichte löst er Weitlings weiteres Schicksal auf und verliert so vielleicht den ein oder anderen Leser. Was schade wäre.

Ebenso bedauerlich ist das fehlende Anschlussgespräch, das von den Veranstaltern nicht eingeplant und vom Publikum nicht eingefordert wurde. Vielleicht konnte die ein oder andere persönliche Anmerkung ja während des Signierens nachgeholt werden. Andrea Schneider

Andrea Schneider

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