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Kultur: Erinnerungen eines Glückskindes Ralph Giordano las in der Druckerei Rüss

Die Szene könnte kaum grauenhafter sein. Seit Wochen versteckt sich die fünfköpfige Familie in einem Keller, nachdem die Mutter im Februar 1945 den Deportationsbescheid erhalten hatte.

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Die Szene könnte kaum grauenhafter sein. Seit Wochen versteckt sich die fünfköpfige Familie in einem Keller, nachdem die Mutter im Februar 1945 den Deportationsbescheid erhalten hatte. Allen war klar, dass dies Konzentrationslager und den sicheren Tod bedeuten würde. Die Ehe mit einem Nichtjuden schütze die Mutter von drei Jungen nicht mehr. Ralph Giordano, der mittlere der Söhne, hatte für diesen Fall Pläne gemacht und sich der Hilfe von Nachbarn versichert.

Und da saßen sie nun fest, dem Tageslicht entwöhnt, entkräftet, attackiert von Ratten, als sie die Schreie ihrer Beschützerin hörten, dazu zwei unbekannte Männerstimmen. Es schien sicher, dass sie verraten wären. Weil sich der Sohn geschworen hat, die Mutter nicht in die Hände der Gestapo fallen zu lassen, stellt er sich mit einer geladenen Pistole hinter sie. Und entsichert die Waffe. Die Mutter schiebt ihr volles schwarzes Haar zu Seite und neigt den Kopf. Bietet den Nacken dar, wie ein wehrloses Tier, wie ein Wesen, das sich der absoluten Ohnmacht bewusst ist und das Leben aufgibt.

Da verstummen die Männerstimmen, das Schluchzen der Beschützerin ebbt ab. Und schließlich kommt auch sie in den Keller gekrochen und zeigt der Familie einen Brief. Es ist die Nachricht, dass ihr Mann gefallen ist. Damals war Ralph Giordano 22 Jahre alt, heute ist er 84. Ein Davongekommener. In diesem Jahr hat er seine Erinnerungen auf mehr als 500 Seiten veröffentlicht. In der Druckerei Rüss, die buchstäblich bis unters Dach bevölkert war, las er am Samstagabend daraus vor.

Die ersten zehn Jahre waren die unbeschwertesten seines Lebens, das änderte sich von einer Stunde auf die andere. Denn, die so genannten Rassegesetze der nationalsozialistischen Machthaber, traten in Kraft. Die Schulkinder wurden in arisch“ und nichtarisch“ eingeteilt. Weil der damals 10-Jährige diese Kategorien nicht kannte, gesellte er sich zu der größeren Gruppe, aus der er umgehend ausgeschlossen wurde. Denn er galt nun als Jude. Sein liebster Kinderfreund machte mit bei dem Spiel das keines war: „Mit Dir spielen wir nicht mehr.“ Die Kinderwelt war zerbrochen.

Elf Jahre später wird ihm einmal mehr das Weltvertrauen ausgetrieben. Er wird von der Gestapo abgeholt und verprügelt, wobei sich seine Folterer über den richtigen Umgang mit Tomatenstauden unterhalten. Diese entwürdigende Situation, gefangen zwischen Gewalt und Wehrlosigkeit, zehrt an dem innersten Kern des Menschseins. Der Gefolterte wünscht sich, niemals geboren worden zu sein, als wäre das das wahre menschliche Glück.

Ralph Giordano überlebt. Im Mai 1945, als britische Panzer durch Hamburg fahren, kriecht er mit seiner Familie aus dem Keller. Gehen können sie nicht mehr. Sehen auch nicht, das Sonnenlicht wirkt wie Messerstiche in den Augen. Als er wieder sehen kann, erkennt er, dass nicht nur die Haare der Mutter in den Wochen weiß wurden, sondern auch die seines Bruders. Ein Schock, der ihn noch heute aufschluchzen lässt.

Längst ist auch Ralph Giordano selbst weißhaarig. In seinem Lebensrückblick weiß er auch von lebbarem Glück zu berichten. Die große Liebe seines Lebens trifft er wenige Tage nach der Befreiung, seine Talente als Journalist kann er ab 1964 beim WDR adäquat einsetzen. Mehr als hundert Fernsehfilme entstanden und zahlreiche Bücher. Auch das eine, das er seit 1942 schrieb. Das Buch. In einer Januarnacht war er aufgewacht mit dem Gedanken, schreiben zu müssen, aufschreiben zu müssen. Seine Erfahrungen aufbereitet in einem Roman, einem großen Roman. Fast schon besessen muss er gewesen sein, von diesem Gedanken. Vierzig Jahre hat es gedauert, dann erschienen „Die Bertinis“ – und wurden ein Bestseller.

Seine „Erinnerungen eines Davongekommenen“ sind die Folie hinter diesem Buch und all dem anderen, was von Giordano zu lesen ist. „Ich bin ein Glückskind und ich weiß das“, sagt er heute und wundert sich jeden Morgen darüber, dass er davongekommen ist. Lene Zade

Lene Zade

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