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Kultur: Erinnerungsphilosoph

Zeit-Reporter Christoph Dieckmann las bei Wist aus „Rückwärts immer – Deutsches Erinnern“

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Zeit-Reporter Christoph Dieckmann las bei Wist aus „Rückwärts immer – Deutsches Erinnern“ Er ist seit fünfzehn Jahren das Feigenblatt aus dem Osten auf dem massigen Körper der von Hamburg und München dominierten Journalistik. Sein Stil ist ganz anders als der von Alexander Osang, dem einzigen anderen, der es in die großen Feuilletons dieser Republik geschafft hat. „Ein Bastard“, sagt Dieckmann über sich, „zwischen Publizistik und Literatur“. Das hat ihm den Egon-Erwin-Kisch-Preis eingebracht, die höchste denkbare Auszeichnung für Journalisten in Deutschland. Dieckmann muss sich bewusst sein, ein lebender Anachronismus zu sein, hörte man ihm genau zu im Literaturladen von Carsten Wist. In einer der einflussreichsten Redaktionen des Landes zu arbeiten und dann mit blauem Trawler-Pulli und langem, ergrauten Pferdeschwanz herumzulaufen. „Ich bin nicht aktualistisch“, lautet die Selbsteinschätzung seiner Texte, die sich auch auf den ganzen Menschen übertragen lässt. Das ist Selbstvergessenheit, keine Koketterie. Wer sich mit der Vergangenheit beschäftigt, braucht nicht aktuell zu sein. Dieckmanns Erzählungen, Reportagen und Essays, die er nun zum siebten Mal schon in Buchform veröffentlicht, heißen „Rückwärts immer – Deutsches Erinnern“. Dieckmann kann als Archäologe der Erinnerung gelten, der versucht möglichst festzuhalten, was mit der Zeit immer flüchtiger wird. Er will mit diesem rückwärtigen, kleinteiligen Erinnern möglichst alles konservieren: den leisen Ton, das zarte Gefühl, einen flüchtigen Geruch, jedes Wort, jede Begegnung. Wenn er über das Ende einer Beziehung schreibt, dann auch, um diese Stimmung in Ost-Berlin in Gedanken zu retten, aus der erst die Haltungen – auch die politischen – erklärbar werden. „Das Ende kommt so plötzlich wie ein Sommerhagel“, heißt es einmal, „ich habe viel geliebt, aber wenige wirklich.“ „Die individuelle Glückserinnerung darf man nicht unterdrücken, sonst schaukelt sie sich zur Großgeschichte auf, und gründet Parteien.“ Dieckmann sagt das als Erinnerungsphilosoph, der sich auf die Stufe des Individuums begibt, um den Kampf mit dem Großen aufnehmen zu können. „Ich laufe wie ein Parlamentär zwischen Großgeschichte und Individualgeschichte hin und her“, beschreibt er seine Arbeit. Der Erinnernde kommt auf diese Weise z. B. als Jugendlicher während der Friedensfahrt vor der Ehrentribüne des Politbüros zu stehen. Der Junge will ein Foto der Bonzen machen und sieht „ihr Alter und ihr Desinteresse und dass sie halbmeterhohe Kunstnelken hielten, mit Stengeln aus Draht.“ So kommt Dieckmann zu einem Erinnern mehr in Bildern denn in Geschichten. Eine Freundin hätte ihm einen schönen Satz überlassen: „Was soll ich anfangen mit einem Film, in dem dauernd etwas passiert?“ Für Dieckmann ist nicht die Story entscheidend, sondern „der kleine Resonanzraum dahinter.“ In diesem Raum sammelt Dieckmann alle Erinnerungen mit einer humorvollen Hingabe: ob sie von dem von ihm verehrten Günter Gaus, dem friedensliebenden Gorbatschow oder seinem verehrten Fußballverein Carl Zeiss Jena oder Bob Dylan stammen. Als müsse der Einzelne mit seinen Erinnerungen die große Geschichte immer begleiten, wie zwei Zechkumpane auf dem Heimweg. Zu leicht geriete einer der beiden sonst auf Abwege. Matthias Hassenpflug

Matthias Hassenpflug

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