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Kultur: Erst Moral, dann oral

Im Theaterschiff: Norbert Leisegang und Frank Braun lasen selbst geschriebene Geschichten

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Keimzeit wird geliebt. Und ihrem Sänger Norbert Leisegang liegen die Herzen zu Füßen. Weil nur er solche Texte schreiben kann, die den geheimnisvollen Knopf auf der Seele drücken und dann alles in einem ganz warm wird. Streuselkuchenromantik mit Schelmennaivität. Das Publikum folgt Leisegangs einnehmendem Charme auch auf das Theaterschiff. Nachdem er mit seinem Kompagnon, dem Trompeter Frank Braun, schon einmal Keimzeit Texte verlesen hatte, lud das Duo nun zu einer Präsentation selbst geschriebener, etwas längerer Geschichten.

Der Schiffsbauch ist voll von der „Generation Keimzeit“. So um die Vierzigjährige, denen die musikalische Mullwickel, die Keimzeit ihnen verpasste, erfolgreiche Polsterung in den Wendeturbulenzen geboten hatte. Leisegang und Braun lesen abwechselnd, immer mal wieder greifen sie auch zu ihren Instrumenten. Nach Instrumentalstücken singt Leisegang natürlich auch Keimzeit-Lieder. Auch wenn Brauns Trompetentöne sich manchmal an die intime, leise Atmosphäre noch anpassen müssen, auch wenn mal ein schiefer Akkord von den beiden belacht wird, die Klangeinlagen wollen sagen, woher man ursprünglich kommt. Von der Musik, nicht so sehr von der Schreiberei.

Leisegang hat Erlebnisse aus dem Alltag seiner Band aufgeschrieben. Da ist Nancy, ein „Engel im Rock“n Roll Club“, der mit knappem T-Shirt, „durch das man die Dessous sehen konnte“, unter den Musikern die Stimmung hebt. Man erfährt, dass Leisegang, beim „gelben M“ schon mal zum Frühstück „Cheeseburger, einen Erdbeershake und einen großen Kaffee“ verdrücken kann. Wäre Nancy hier, überlegt der Erzähler muffelnd, würde sein Band-Kollege vielleicht nicht mit „vor Zorn blutleerem Gesicht einer Gouvernante“ auftauchen und zur Weiterfahrt drängen.

Den Stories fehlt nicht so sehr der gute Vorsatz als ein bisschen die Pointe. Anders als bei seinen wirksamen Songlyrics muss Leisegang hier keine Stimmung im Augenblick erzeugen, sondern einen Bogen spannen und am besten halten. Dürfen einzelne Worte im Lied alles bedeuten, wird das Wort in Leisegangs Geschichten sehr häufig von trivialen Partnern begleitet. Und dann muss sich der Erzähler auch noch einen Standpunkt suchen. Das ist schwierig, aber nicht unmöglich. Ein Käfer auf einem Spiegel, der sich auf dem Rücken dreht und kämpfend aufzustehen versucht, liefert Leisegang ein Motiv für eine Geschichte, die zwischen Traum, Rausch und Wirklichkeit gekonnt und überraschend wechselt. Hier wird zum ersten Mal die ziemlich trockene Beschreibungsebene in Richtung Fantasie verlassen. Das Ich bei Leisegang entspricht dem Realbild, bescheiden mit dem Hang zur Selbstironie.

Bei Frank Brauns Texten liegt der Fall anders. Dieser Erzähler kokettiert mit seinem allzu ungebrochenen Selbstbewusstsein. Eitle Spielerei mit Mehrdeutigkeiten und allzu gedrechselte Konstruktionen manieriertester Ausdrücke aus dem oberen Sprachregister machen eine an sich triviale Erzählsituation nicht unbedingt interessanter. Da wird „dem Volkssport gefrönt“, im betrunkenen Zustand Smart-Autos auf die Fahrbahn zu tragen, da wird in der „Mondscheinsonate“ aus dem abnehmenden Mond „Frau Dr. Luna“ mit einer „all-mählichen Betriebsblindheit“.

In „Ein Sonntag, wie er im Buche steht“ liegt das Ich im Bett und die Sonne scheint. Das Laken ist gespannt – Doppeldeutigkeit – was auf ihm noch passieren wird.

Bücher liegen um den gerade Aufgewachten herum. Anlass, über das Wort Moral „zu sinnieren“. Die Rechtschreibreform sollte bewirken, dass das „M mit 4/5tel-Mehrheit an die baskische Eta abgegeben“ wird. Das übriggebliebene „oral“ scheint dem Erzähler in seinem Zustand erwünschter, die Eta könnte mit dem dazu gewonnenen Buchstaben dann „Meta-Anschläge“ verüben. Denselben Weg vom Abstrakten zum Konkreten, den so die Moral bei Braun schon gegangen ist, gehen auch Leisegangs Schöpfungen.

Von der Poesie der kurzen Songtexte zu „Geschichten aus dem Leben“, wie es einer der zufrieden applaudierenden Zuhörer sagte. Ein langer Weg, diesen Lebensbeschreibungen wiederum so etwas wie eine Moral mitzugeben. Matthias Hassenpflug

Matthias Hassenpflug

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