Kultur: Ertrinken in schwerem Wasser Dirge sorgten für einen musikalischen Horrortrip
Im Archiv in der Leipziger Straße gehen die Uhren langsamer. Drei Bands waren am Mittwoch geplant, 21 Uhr sollte das Konzert losgehen – „Ach, vor 22 Uhr geht hier bestimmt nichts los“, hieß es an der Bar.
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Im Archiv in der Leipziger Straße gehen die Uhren langsamer. Drei Bands waren am Mittwoch geplant, 21 Uhr sollte das Konzert losgehen – „Ach, vor 22 Uhr geht hier bestimmt nichts los“, hieß es an der Bar. Der Zeitgewinn ließ sich aber umsetzen: und zwar im sogenannten Café, wo es sich – begleitet von Smalltalk, kaltem Flaschenbier und Punkrock vom Band – ganz trefflich aushalten ließ.
Besuch aus der französischen Hauptstadt Paris hatte sich angekündigt, seit mehr als 20 Jahren stehen Dirge auf den Bühnen der Welt – und auf der jetzigen Tour gab es einen Zwischenstopp in Potsdam. Ins Vorprogramm wurden zwei Potsdamer Bands geladen, die Auswahl ist ja auch groß – und gleich die erste Band war eine gehörige Hausnummer. Von Fating Bear hatten die wenigsten bisher gehört; ein Duett, nur aus Gitarre und Schlagzeug bestehend – an der Gitarre aber ein bekanntes Gesicht: Jan Waterstradt, Gitarrenspiel-Tausendsassa und Mastermind der Potsdamer Math-Metal-Combo Sun. Zu hören gab es ziemlich experimentellen Rock, der sich irgendwo zwischen Postrock und Stoner aufhielt – und mit Gesang garniert war. Eine recht wilde Collage, die oft den Atem anhalten ließ. „Ein Seemann fährt auf See, ein Sturm kommt auf, blablabla, er fährt wieder nach Hause“, so die lakonische Kurzbeschreibung eines Songs. Das muss jedenfalls eine teuflische Fahrt gewesen sein: Wenn man sich fallen ließ, konnte man den Wellen des Schiffes folgen – atmosphärische, psychedelische Musik, wie sie wohl am besten ins San Francisco der Siebziger gepasst hätte.
Die Band mit dem kryptischen Namen Gelogene Sonne war als Crust-Band angekündigt, als Geradeausgebolze der härteren Schiene. Spielte sie aber gar nicht: Im ersten Moment fühlte man sich viel mehr an den amerikanischen Zeitlupen-Deathmetal der Neunzigerjahre erinnert, Ein Vergleich mit Obituary trifft es vielleicht am ehesten. Ein schwerer, heruntergestimmter Bass, der von keifendem Gesang begleitet wurde, wechselte sich mit vereinzelten Blastbeat-Attacken ab. Gut, das muss man mögen – im Gegensatz zu Fating Bear wirkte das jedoch musikalisch etwas reduziert und vielleicht etwas zu sehr im Kochtopf von Bolt Thrower ausgelaugt. Ohne ausgeprägte Neigung zu dieser Musik alter Schule, die sogar Black-Metal-Elemente aufblitzen ließ, kam man sich vor der Bühne etwas verloren vor. Der Gitarrist fehlt der Band dann doch, genauso wie die entscheidende Spur Esprit, die sie aus der Monotonie retten könnte. Aber bei so einer jungen Band wird noch gewaltig viel passieren, ganz sicher.
Die Franzosen von Dirge sind freilich ganz alte Hasen, und das merkte man auch. Die Hölle fror in Zeitlupe zu, alles Chronologische wurde lahmgelegt: Das Gegenteil von Geschwindigkeit wurde gespielt, die Zeit verging zwangsläufig langsamer – es war verrückt, mit welcher Vollbremsung hier gearbeitet wurde. Musikalisch wurde es schwer, mit akzentuierten Schlagzeugtreffern, die Musik wand sich um die Musiker, die Musiker sich um ihre Instrumente. Die verzweifelten Gesichtsausdrücke der Franzosen während der Entschleunigung waren war der pure Horror, ein narkotischer Teufelskreis in einer atmosphärischen Fesselung, die kaum noch Luft zum Atmen ließ. Wie von einer Lawine wurde man überrollt: Viel blieb nicht übrig, als sich die letzten Takte in das Gemäuer des Archivs fraßen. Was für ein Horrortrip. Oliver Dietrich
Oliver Dietrich
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