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Kultur: Es gibt keine Gleichheit vor dem Tode

Kerstin Hensel stellte im Peter-Huchel-Haus Wilhelmshorst ihren Roman „Lärchenau“ vor

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Trotz erwiesener Nachfrage ist satirische Epik hierzulande genauso rar wie eine Prosa voll Magie und Wunder, der „Realismus“ hat eben alles im Griff. Die 1961 in Karl-Marx-Stadt geborene Autorin Kerstin Hensel („Falscher Hase“, „Im Spinnhaus“) macht da eine Ausnahme. Passend zu ihrem Bekenntnis – „Das Normale interessiert mich nicht." – schreibt sie eher Bücher, deren Personage immer etwas anders als erwartet ist. Auch in den Sujets geht nichts den normalen Gang, sie sieht die Wirklichkeit, das Leben, halt „ein bisschen anders“.

Am Dienstag stellte sie im Wilhelmshorster Peter-Huchel-Haus ihren neuen Roman „Lärchenau“ vor. Er ist vieles zugleich: Satire auf den guten kitschigen Arztroman, Revue von sechzig Jahren deutscher Geschichte mit Erweiterung nach hinten und vorn, ein Ehe-Roman mit unerwartetem Finale, dazu Sittenschilderung, die sich exemplarisch am märkischen Dorfe Lärchenau festmacht. Dieser Ort, so Kerstin Hensel, sei die eigentliche Hauptperson des Buches.

Worum geht es? Fast zeitgleich werden in Lärchenau Günter Rochus Konarske und tief unten im Vogtland Adele Möbius geboren, das spätere Ehepaar. Doch während sich der märkische Knabe in der Tradition seines Vaters beim Bauer Eden bald als wunderheilender Tierarzt erweist, ist Adele eher langsam. Für ihn steht bald fest: Er wird Medizin studieren und eines Tages den Nobelpreis bekommen! Auch sie will einmal hoch hinaus, obwohl man die Klassenletzte erst mal kräftig auslacht. Später wird sie immer wieder von ihrem unbekannten Vater erzählen, einem König mit viel Land und dichten Wäldern. Kerstin Hensel ist hier ein Geniestreich gelungen: Adeles Mutter nämlich lebte damals im Wahn, kein Geringerer als Adolf Hitler habe sie geschwängert, als er ihr Haus auf ein Mittagessen besuchte. Besonders Frauen waren im Dritten Reich ja vom Führer „wie besessen“.

Wie Günter und Adele zusammenkommen und auf welch einmalige Weise sie heiraten, war höchst vergnüglich zu hören. Unvergesslich für Braut wie für Zuhörer wird ihre Hochzeit in der Pathologie der Charité bleiben, wo Fleisch in Nierenschalen, Wodka in Spritzen angeboten werden, aus einem Totenschädel Weintrauben quellen. Kerstin Hensel kennt sich da aus, sie war ja mal Krankenschwester.

Überzogen? Jeder Medizinstudent weiß es besser. Vier Lesebeispiele genügten, um eine kluge Diskussion über den vermeintlichen „Realismus“ des Romans auszulösen. Grotesk wie die ganze DDR sagen die einen, die blanke Wahrheit! andere. Michael Opitz, im Fragen so gescheit wie in der Literatur verständig, moderierte diese Perle unter den Literaturveranstaltungen. Er bewunderte die intelligente Verknüpfung der drei Zeitebenen, die Kunst des satirischen Schreibens, die genaue, plastische Sprache. Lärchenau sagte die Autorin, habe sie bei JOhann Strauß’ „Der Zigeunerbaron“ abgeschaut. Ihr Realismus bestehe aber nicht in der direkten Abbildung von Wirklichkeit, es gehe vielmehr um das „Durchspielen einer Situation“. Die Lesung schloss unerwartet „unnormal“ – mit einer Donnerpredigt des Pfarrers wider die Hybris der Lärchenauer. Er sagt seltene Sätze: „Der Krieg seid Ihr selbst“ und „Es gibt keine Gerechtigkeit vor dem Tod“. Danach wird er entlassen. Man sieht, das erste ist unrealistisch, letzteres nicht, beides hat bei Kerstin Hensel Methode.

Konarske, von der Medizin besessen, also krank, bekommt zwar keinen Nobelpreis, doch seine Erfindung macht Adele dann doch noch zu etwas ganz Besonderem ... Gerold Paul

Kerstin Hensel, „Lärchenau“ Luchterhand Verlag, 19.95 Euro

Gerold PaulD

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