Kultur: Es ist zum Verrücktwerden
Fulminant: Timo Sturm und Dominik Stein mit „Gehen“ im T-Werk
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Allein dieses Wortgebilde: „Tschechoslowakische Ausschußware“. Das sind gesprochene Ohrfeigen der saftigsten Sorte, die Karrer dem Neffen in Rustenschachers Hosengeschäft an den Kopf wirft. Immer und immer wieder. Ein fast schon liebgewonnenes Ritual. Bei seinen regelmäßigen Spaziergängen stürzt Karrer, aus der Klosterneuburgerstraße kommend, Richtung rustenschacherschen Laden, reißt die Tür auf, hält einen kurzen Moment inne, woraufhin sich Rustenschachers Neffe seinem Schicksal fügt und Karrer Hose für Hose gegen das Licht hält. Was in Rustenschachers Laden als „erstklassige englische Stoffe“ gepriesen wird, entlarvt Karrer bei dieser regelmäßig wiederholten Prozedur ob der zahlreichen schütteren Stellen als „hundertprozentige tschechoslowakische Ausschußware“. Es ist abzusehen, dass einer von beiden, entweder Karrer oder der Neffe Rustenschachers, über diesen Streit die Nerven verlieren wird.
Der Leser braucht Geduld, bis er in Thomas Bernhards Erzählung „Gehen“ diese groteske Szene im rustenschacherschen Laden erleben darf. Bis dahin muss er nicht wenige gehirnverknotende Gedankengänge von Karrer und die ständige Wiederholung von Namen und dem bekannte Geschehen über sich ergehen lassen. Karrer selbst kann da schon nicht mehr selbst sprechen. Es sind sein ehemaliger Spazierpartner Oehler und ein namenloser Ich-Erzähler, die rückblickend Karrers Denken versuchen zu entschlüsseln und dessen Zusammenbruch im rustenschacherschen Laden erklären wollen, der ihn direkt nach Steinhof, in die Irrenanstalt, gebracht hat.
Die Schauspieler Timo Sturm und Dominik Stein gaben Karrers Zusammenbruch am Samstagabend im gut besuchten T-Werk als furiosen Höhepunkt ihrer Lesung. Anlässlich des 20. Todestages des österreichischen Schriftstellers und Theaterautors Thomas Bernhard hatten sie „Gehen“ wieder ins Programm auf-, und die Zuhörer auf genussvollste Weise in die Sprachwelt Bernhards mitgenommen.
Ein Tisch, zwei Stühle und die knapp 100-seitige Erzählung, das genügte Sturm und Stein. Im Wechsel lasen sie „Gehen“ und gaben so Bernhards Erzählweise ein Profil, dieses ständige Hin und Her des Gesagten durch unterschiedlichste Personen, die in Karrers Satz: „Im Grunde ist alles, was gesagt wird, zitiert“, die treffendste Formulierung findet. Gelegentlich, vor allem in den gehirnverknotenden Gedankengängen Karrers über das Denken, die Möglichkeiten des Denkens, die nur eines zeigen: Die Unmöglichkeit eines wahren Denkens, ließ man sich von Bernhards unübertroffenen Sprachrhythmus, seinem Wortgeschmack durch die beiden Schauspieler tragen und genoss einfach nur. Dann wieder das Bernhard-typische: Die Beschimpfung des österreichischen Staates, das Verzweifeln an der Dummheit der Menschen, das Klagen über die Missachtung des Genialen, und das alles zwischen schwärzestem Nihilismus und noch schwärzestem Humor.
Leiden am Selbst, an der Gesellschaft und vor allem an dem Zustand, nichts verändern zu können, nichts verändern zu wollen. Karrers Erkenntnis aus dieser fatalen Weltsicht: Es hilft nur absolute Gleichgültigkeit, sprich eine „totale, endgültige Verrücktheit“. Doch für Karrer ein höchst erstrebender Zustand. „Der Zustand der vollkommenen Gleichgültigkeit, in welchem ich mich dann befinde, so Karrer, ist ein durch und durch philosophischer Zustand“, lautet der letzte Satz in „Gehen“. Dirk Becker
Dirk Becker
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