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Kultur: Etwas lag in der Luft

Vor der Zeitrechnung: Gedichte und Erzählung von Lutz Seiler. CD-Premiere im Literaturladen Wist

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Es ist ein ganz ungewohnter Ton, der die Gedichte des Suhrkamp-Autors Lutz Seiler so außergewöhnlich macht. Sie sind schlicht, romantisieren nichts, auch oder gerade wenn sie Landschaften oder Gefühle beschreiben. Sie sind glücklicherweise völlig pathosfrei. Fast alle Worte, die der mit wichtigen deutschen Lyrikpreisen ausgezeichnete Dichter verwendet, klingen einfach und vertraut. Und dennoch umgibt sie ein fremdes Strahlen. Woher kommt diese Ausstrahlung, die Seiler 2005 den Jahrespreis der SWR-Bestenliste einbrachte?

Seiler, der im Peter-Huchel-Haus in Wilhelmhorst nahe Potsdam wohnt, hat jetzt zusammen mit dem Schauspieler und bekannten Synchronsprecher Christian Brückner die Hör-CD „Vor der Zeitrechnung“ eingesprochen, die beide am Dienstag im Literaturladen Wist vorstellen. Während der Autor selbst 28 Gedichte aus seinen Gedichtssammlungen „pech & blende“ und „vierzig kilometer nacht“ vorträgt, ist es Brückners markantem Organ vorbehalten, die Erzählung „Heimat“ beizusteuern, in der Seiler nebenbei auch seine Poetik erläutert.

Dass einfache Substanz durchaus die Fähigkeit zum Strahlen besitzen kann, erlebte Lutz Seiler als Kind, das mit dem Uranabbau in Thüringen aufwuchs. Wenn der Großvater nach der Schicht im Tagebau seine Hand über das Radiogerät hielt, wurde die Übertragung von einem Rauschen unterbrochen. Die „müden Dörfer“ nannte der Volksmund Seilers Heimat in der Nähe der Uranförderung, die von der Wismut-AG betrieben wurde, weil deren Bewohner so merkwürdig phlegmatisch erschienen.

Und so empfindet der Zuhörer der von Seiler selbst gelesenen Gedichte eine ähnliche trancehafte Schwere, als ob der Autor den Zuhörer mitnehmen möchte mit einem Blick, der träge in die Weite seiner Erinnerungen starrt. „Etwas lag in der Luft“, heißt es in dem Text über die Absonderlichkeit der verstrahlten Abraumhalden. „Etwas lag in den Gedichten“, könnte man gleichermaßen Seilers Lyrik beifügen.

Wo ihre kurzen Zeilen am Ende sind, da will die Stimme des Dichters eine Pause einlegen, gleich wie man ein Lesebändchen zwischen die Seiten legt. Ein Moment wird so geschaffen, um nachzuhorchen.

„Nervensysteme der Erinnerung“ möchte Seiler mit seinen Gedichten errichten, heißt es in der Erzählung. In ihnen gäbe die strahlende Heimat die Gangart vor, „langsam“, wie die Minenarbeiter das Erz unter dem Geröll freilegen, „von oben nach unten“. Das Ziel ist die Freilegung der Rohstoffe, der „rohen Stoffe“, oder „Knochen der Erde“, wie die Bergbaumythologie das Erz bezeichnet.

Dieses Wesentliche der Erinnerung wird im Abstrahlen des Tons klarer erkenntlich als im bloßen Aufzählen des Faktischen. Lutz Seiler, Jahrgang 1963, poliert diese Erinnerungsknochen, die er aus der DDR seiner Jugend und seines Wehrdiensts gesammelt hat, und verschnürt sie mit Beobachtungen aus der Gegenwart. Im Gedicht „Großraum Berlin, ein“ spürt er in seinem schlichten, strahlenden Tonfall einen „Koloniengeruch“ in der Hauptstadt auf. Das frühere „Staniol in den Kirschen“, die „kurzen braunen Hälse“ der Bierflaschen, das „überspreizte Scheitelpaar“ der Jugend, Jägerzäune und Well-Asbest werden dem „Der-tut-nichts-Pitbull“ und den kristallklaren Flaschen der Neuzeit gegenüber gestellt. Die nazibraune Spießbürgerlichkeit der Vorstadtidylle ist dieselbe geblieben, „dieses Patrouillieren aus den Schädelspitzen.“

Die nordamerikanischen Indianer, so liest Brückner weiter in „Heimat“, hätten ihre heiligen Stätten häufig genau an jenen Orten gehabt, wo später riesige Uranvorkommen gefunden wurden. Die vom Brandenburgischen Literaturbüro zusammen mit dem Kulturradio des RBB herausgegebene CD „Vor der Zeitrechnung“ besitzt ebenfalls jene Trance-Qualität, die Lutz Seiler auch seiner Thüringer Heimat zuschreibt. „Der eine“, der Indianer, „mache ein Mandala“, so der vielleicht zur Zeit renommierteste in Brandenburg lebende Autor, „der andere ein Gedicht.“

Lutz Seiler: „Vor der Zeitrechnung“, Gedichte und eine Erzählung, Edition parlando, 17,90 €: CD-Premiere mit Lutz Seiler und Christian Brückner am Dienstag, 31. Oktober, 20 Uhr, Literaturladen Wist, Dortustr. 17, Karten unter: 0331-2800452, Eintritt: 4/3€.

Matthias Hassenpflug

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