Kultur: Experimente in Wissenschaft der Liebe Heitere Lesung
im Kutschstall
Stand:
Der Kutschstall und die indische Philosophie des Kamasutra gingen am Sonnabend eine ungewöhnliche Ehe ein. Im ausverkauften Haus fand die fünfte Potsdamer Literaturnacht statt. Der „Literaturnacht e. V.“ hatte mit seiner Ankündigung, an diesem Ort die indische Philosophie der Liebe vorzustellen, großes Interesse geweckt. Die Literaturnacht zieht inzwischen ein festes Stammpublikum an und ist eleganter geworden.
Der Sanskrit-Text des Kamasutra, im dritten Jahrhundert nach Christus entstanden, ist eine Wissenschaft der Sinnlichkeit. Dabei geht es nicht nur um Sexualität, sondern um die Sinne im Ganzen. So erwartete die Besucher ein Abend jenseits der üblichen Autorenlesungen. Literatur wurde lebendig und erlebbar. Rötliche Beleuchtung und eine mit Rosenblättern bestreute Bühne ließen den Kutschstall in einem neuen Licht erscheinen. Die Lesung wurde mit Musik und Schauspiel ergänzt.
Vereinsmitglied Julian Drews führte durch den Abend. Er stellte das Kamasutra vor. Dabei war es von Vorteil, dass er es auf einen „heiter-erotischen Abend“ anlegte. Meditativer Ernst war nicht die Sache des jungen Publikums. Nicht als „unmoralisch“, sondern als „anders moralisch“ wollte Drews das Kamasutra verstanden wissen. Als Beleg dafür präsentierte er ein Kapitel aus dem ersten der insgesamt sieben Bücher: „Gründe, die Ehefrau eines anderen Mannes zu nehmen.“ Das Publikum reagierte teils mit Belustigung, teils nachdenklich.
Hintergründig auch die Lesung: Nachwuchsautor Christoph Beck und die Potsdamerin Christine Anlauff bezogen das Kamasutra auf die westliche Lebensweise. Anlauff las eine eigens für den Abend verfasste Kurzgeschichte. In dem Text ließ sie die fiktive Gründerin einer „Hochschule für Liebeskunst“ in einer Talkshow auftreten. Dabei entfaltete die Autorin ein souveränes Spiel mit dem Publikum: die Zuhörer im Kutschstall übernahmen die Rolle der Zuschauer in der vorgestellten Talkshow. Der Text über „Diplom Kurtisanen“ widersprach nicht nur unseren Wertvorstellungen. Er konnte auch als ironischer Kommentar des gegenwärtigen Exzellenz-Strebens an deutschen Hochschulen interpretiert werden. Anlauff fragte sich, wie Eignungstests und Stundenplan an einer „Hochschule für Liebeskunst“ aussehen könnten.
Der zweite Teil des Abends gehörte der Musik und dem Schauspiel. Das virtuose Spiel des Cellisten Sonny Thet wurde durch einen lauten Streit aus dem Publikum unterbrochen. Thet herrschte die vermeintlichen Störer an: „Habt Ihr was zu sagen?“ Dann inszenierten die Schauspieler Peter Wagner und Marie-Luise Lukas witzig und überraschend den Krieg der Geschlechter. Das eigentliche Thema des Abends geriet dabei jedoch etwas aus dem Blickfeld. Begrüßenswert ist aber, dass sich niemand in didaktischem oder künstlerischem Ernst versuchte. Dies zeugt von der Wandlungsfähigkeit der Literaturnacht. Das Publikum wurde nicht belehrt, sondern trug seinen Teil zum Erfolg des Abends bei. Ein gelungenes Experiment. Mark Minnes
Mark Minnes
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: