Kultur: Falltüren und Himmelstüren
Angelica Domröse las im Filmmuseum aus ihrer Autobiografie
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Angelica Domröse las im Filmmuseum aus ihrer Autobiografie „Es ging nicht um Verstellung, sondern um Wahrhaftigkeit“, schreibt Angelica Domröse in ihrer Autobiografie „Ich fang mich selbst ein. Mein Leben“. Die große Schauspielerin las im Filmmuseum Potsdam und verbarg nicht ihre Enttäuschung angesichts des nur gut halbgefüllten Saales. Später gab sie der positiven Sichtweise den Vorzug und sprach von einem „halbvollen Saal“. Ehrlichkeit und Sinn für Komik prägten auch die Passagen, die sie dem begeistert mitgehenden Publikum vortrug. „Das wichtigste ist, dass man weiß, wo man herkommt, wo seine sozialen Wurzeln sind.“ Damit eröffnete Angelica Domröse ihre Exkursion in die vergangenen 50 Jahre ihres Lebens, die zugleich deutsch-deutsches Gegen- und Miteinander reflektieren. Im Spiegel des Theaters ergab das eine doppelte Reflektion, die immer etwas der Zeit voraus war. So setzte sich der Bühnenbildner Achim Freyer schon 1966 während eines Italien-Gastspiels der Volksbühne nach Rom ab. Angelica Domröse selbst – was sie aber an diesem Abend nicht erzählte – hatte mit ihrem Lebensgefährten Hilmar Thate den Protest gegen Wolf Biermanns Ausbürgerung initiert und war 1980 nach West-Berlin gezogen. Grenzen hatten schon das kleine Mädchen zum Überschreiten herausgefordert. Genau kannte sie die Sektoren-Einteilung ihrer Heimatstadt Berlin und wusste daraus Nutzen zu ziehen – zwei Währungen verschafften dem Mädchen aus der Gartenstraße 85 in Mitte das Privileg von zwei Sparbüchsen, eine Ost- und eine West-Tante bescherten ihr schon als Kind Einblicke in die Beschränktheit von vorgefassten Meinungen. Erstaunt stellte sie fest, dass die „Osttante“ viel westlicher war als die „Westtante“ und umgekehrt. Bis zur Groteske zugespitzt zeigte sich ihre Erzählung vom Tag des 17. Juni 1953 aus dem Erleben von drei halbwüchsigen Mädchen und drei kleinen Jungen. Wer im damaligen Ost- oder in Westberlin hat „Die Legende von Paul und Paula“ nicht gesehen? Dieser Film machte die Diplom-Schauspielerin und Absolventin der Hochschule für Film und Fernsehen Babelsberg berühmt – und doch blieb sie der Bühne fest verbunden. Nach ihrem Rausschmiss beim Berliner Ensemble arbeitete sie an der Volksbühne und schrieb so am wohl bedeutendsten Abschnitt der DDR-Bühnengeschichte mit. Keine Grenzen kennt wohl auch Angelica Domröses Begeisterung für große Theatermacher wie Benno Besson und George Tabori. Lustvoll spielte sie kleine Dialoge mit den beiden Bühnen-Koryphäen vor – und schon erstanden sie nahezu leibhaftig vor dem gebannten Publikum. Bewegende Erlebnisse mit dem Volksbühnenparteisekretär Genosse Klein und mit der Staatssicherheit in Gestalt eines rosenbringenden Verehrers am Bühnenausgang konfrontierten mit der realen Vergangenheit, auch hier in der Gestalt der Groteske. Auf den absurden Gedanken, dass ausgerechnet Angelica Domröse mit ihrer immer noch grazilen, mädchenhaften Gestalt einen der größten Diktatoren spielen sollte, konnte nur ein Ausnahmetheatermacher wie George Tabori kommen. Mit skurrilen Einblicken in die Arbeit an dieser bisher letzten großen Bühnenrolle, für die sie zur Schauspielerin des Jahres gewählt wurde, beendete Angelica Domröse den Abend, nicht um vorher noch einmal Geoge Tabori zu huldigen, der ihr „Falltüren, Himmelstüren und Tore“ geöffnet habe. Zeitgeschichte, Theatergeschichte und Privates vermischen sich in Angelica Domröses Erzählungen, die sie von der Autorin Kerstin Decker aufzeichnen ließ, konkret, anschaulich und mit viel Sinn für die grotesken ebenso wie für die tragischen Seiten des Lebens. Es ist das Buch einer großen Mimin, die dem Leser einen Spiegel vorhält, auf dass er sich in ihrer Darstellung selber erkennen möge. Dass dies gelungen ist, zeigten die Reaktionen des Publikums im Filmmuseum Potsdam. Babette Kaiserkern
Babette Kaiserkern
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