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Vorschau auf "Urfaust"-Premiere: Fast wie im Fight Club

Alexander Nerlich und Wolfgang Menardi lassen es am Hans Otto Theater mit der Premiere ihres modernen Urfaust krachen.

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Zwei Pole werden am heutigen Freitag auf der Bühne des Hans Otto Theaters zusammenprallen: In Alexander Nerlichs Version von Goethes „Urfaust“ sind Gretchen und die Hauptfigur genau das. Zwei zerissene Menschen in ganz gegensätzlichen Lebenslagen, zwei, die sich genau deshalb anziehen – und so ins Verderben stürzen. „Gerade in der Rolle des Gretchens sehe ich eine große Ambivalenz, dafür haben wir auch genügend Belege im Text gefunden“, sagt Nerlich. Der 34-Jährige inszeniert zum zweiten Mal am Hans Otto Theater, weitere Produktionen sind geplant.

Für ihn ist klar: Nicht nur Faust selbst ist von seinem Dämon getrieben, auch die junge Frau, die er verführt und dann fallen lässt, ist kein Mensch, der mit sich im Reinen ist – so klar, streng und aufrichtig ihre Weltvorstellung auch scheinen mag. „Die hat aber eine Kehrseite, ihre Schuld am Tod ihres Schwesterchens“, sagt Nerlich. Gegen dieses Trauma müsse sie ständig ankämpfen, erst dadurch erwächst für ihn ihre aufopferungsvolle Art, ihr Wille, für andere da zu sein. „Es ist ihr bitterernst mit ihrem Plan, Kinder mit dem Mann zu bekommen, in dem sie ihren Lebenspartner erkennt – und trotzdem gerät sie auf diesen Weg.“ Im krassen Gegensatz dazu steht Faust, der, unzufrieden mit sich und seinem Leben, ausbrechen will, alle Selbstzweifel fahren lässt. Er will sich nicht mehr selbst verwirklichen, sondern alles verschleudern – „ein ziemlich verstörender Ansatz“, findet Nerlich.

Natürlich ist auch Faust, gespielt von René Schwittay, bei Nerlich ein klassisch gequältes Ich. Mephisto ist bei Nerlich nicht der Teufel, sondern Fausts Alter Ego. Ein Teil, das sich abspaltet, als die Bedürfnisse für Faust nicht mehr vereinbar sind, als er erkennt, dass er die Verantwortung, die er als Lehrer hat, weder erfüllen kann noch will.

Und genau das reizt Nerlich am „Urfaust“: Mephisto und Faust sind sich viel näher als in Goethes späterer Bühnenfassung Faust I und II. Sie schließen in der Urfassung noch keinen Pakt, müssen sich aber viel stärker auseinandersetzen. Der Urfaust ist damit auch ein bisschen wie „Fight Club“, findet Nerlich. Auch in David Finchers Thriller von 1999 kämpfen Gut und Böse, wild und gezähmt, aber entsprungen aus demselben Menschen, gegeneinander.

„Mich faszinieren Menschen mit so einer absoluten Idee, dem Glauben an das Gute zum Beispiel“, sagt Nerlich, und wie bei allem, was er sagt, spricht sein ganzer Körper mit. Extreme Positionen, wie sie das Gretchen, in seiner Inszenierung gespielt von Zora Klostermann, vertritt, lösen bei ihm ganz widerstreitende Reaktionen aus. „Menschen, die tatsächlich für ihren Glauben, ihre Überzeugung sterben, provozieren doch heutzutage viel mehr als ein paar böse Banker, die man über die Bühne hetzt.“

Die hat am Hans Otto Theater Nerlichs Freund und langjähriger Kollege Wolfgang Menardi entworfen. Die beiden kennen sich seit dem Studium in München und haben seitdem an verschiedenen Theatern zusammengearbeitet. Der „Urfaust“ am HOT ist ihre sechste gemeinsame Produktion. Die Bühne ist ein Kellerloch, düster, beklemmend. Im Laufe des Stücks bricht von ganz hinten Gretchens helle Welt ein – jedoch nur, um von Mephisto demontiert zu werden. Die Reibungen, Auseinandersetzungen, das ständige Gegenüber von Gretchen und Faust greift Menardi mit einer ganzen Reihe von Spiegelungen auf. Dopplungen hat er auch in seinen Kostümen eingeflochten,selbst die Gretchenfrage – „wie hältst du’s mit der Religion“, gibt Faust hier zurück. Menardi hat in der Literatur- und Filmgeschichte eine ganze Fülle von zitierfähigen Vorbildern für das Spiegelprinzip gefunden.

Auch in der Realität finden sich heute noch Parallelen zu einem der großen Faust-Themen: dem Kindsmord. „Zu dem Komplex habe ich viele Fallbeschreibungen gelesen – soweit es erträglich war“, sagt Nerlichs. Sein Gesicht zuckt dabei. Er ist einer, der wirklich verstehen will, was Frauen dazu treiben kann, ihr eigenes Baby zu töten. Für Goethe selbst war der Prozess, die Verurteilung und Hinrichtung der Kindesmörderin Susanna Margaretha Brandt der Auslöser, das Stück zu schreiben.

Sprachlich hat Nerlich am „Urfaust“-Text kaum etwas modernisiert oder abgewandelt, im Gegensatz zu den späteren Fassungen hat Goethe das Stück auch noch nicht in Versform geschrieben. Nur die Szene in Auerbachs Keller, in der Faust und Mephisto die Studenten angehen, habe er umgestellt. „Der Witz von damals funktioniert heute nicht mehr.“ Stattdessen finden sich die beiden Hauptfiguren bei ihm in einem Elektroklub wieder – der aber in einem freudlosen Tableau aufgelöst wird.

Überhaupt ist Nerlichs Blick auf den Stoff, der zwischen 1772 und 1775 entstand, ein postmoderner: „Die Geschichte ist nicht linear, eher ein Fragment, jederzeit kann alles passieren, selbst das aufrechte Gretchen kann zur Mörderin werden.“ Das ist für ihn überhaupt das Irrste an der ganzen Geschichte – Fausts selbstbewusster Egoismus und Gretchens Güte treffen mit Wucht aufeinander – und verändern sich dabei. „Er wird sanft, sie zur Mörderin“, sagt Nerlich und guckt noch immer ein wenig verwundert darüber.

Restkarten für die Premiere des „Urfaust“ am Hans Otto Theater am heutigen Freitag, 19.30 Uhr, gibt es an der Abendkasse. Weitere Termine: Samstag, 1. Februar, Sonntag, 2. Februar, Mittwoch, 12. Februar

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