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Kultur: Feindbild Guido Westerwelle Jürgen Leinemann las in der Reithalle A

Jürgen Leinemann begann den Abend gleich mit einem trefflichen Ausspruch, den Bundestagspräsident Wolfgang Thierse vor einiger Zeit ihm gegenüber geäußert hat: „Wissen Sie, ich beobachte in letzter Zeit bei Besuchern unseres Hauses verstärkt einen Gesichtsausdruck, wie sie ihn Betrachter eines Unfalls auf der Autobahn haben könnten. Diese Mischung aus Faszination und Ekel .

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Jürgen Leinemann begann den Abend gleich mit einem trefflichen Ausspruch, den Bundestagspräsident Wolfgang Thierse vor einiger Zeit ihm gegenüber geäußert hat: „Wissen Sie, ich beobachte in letzter Zeit bei Besuchern unseres Hauses verstärkt einen Gesichtsausdruck, wie sie ihn Betrachter eines Unfalls auf der Autobahn haben könnten. Diese Mischung aus Faszination und Ekel ...“ Leinemann, als veritable Größe des deutschen Journalismus, Intimkenner der politischen Klasse, las am Dienstagabend in der Reithalle A aus seiner im Blessing -Verlag erschienenen Bestandsaufnahme „Höhenrausch - Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker“. Es waren gehaltvolle zwei Stunden, die die zahlenmäßig nicht sehr starke, jedoch an Lebensjahren erstaunlich junge Zuhörerschaft in ihrer Sicht auf berufsmäßig betriebene Politik bestätigt hat. Jürgen Leinemann, seit 1971 für den SPIEGEL in Washington, Bonn und Berlin und seit 2002 als Autor des Nachrichtenmagazins im Berliner Hauptstadtbüro tätig, bediente all die Klischees und Vorurteile aus eigenem Erleben. Er schreibt schonungslos gegen die „Droge Politik“ an, eine Sucht, die nach Ansicht von Hans Magnus Enzensberger „den Abschied vom Leben und den Kuß des Todes“ bedeutet. Erschütternd beispielsweise die Begebenheit, an die er sich im Zusammenhang mit Uwe Barschel erinnert. Der frühere Ministerpräsident von Schleswig-Holstein erlitt 1986 bei einem verunglückten Landeanflug auf Lübeck schwerste Verletzungen. Noch vom Krankenbett aus beschloss er, dennoch in den Wahlkampf zu ziehen. Leinemann erlebte den Monate später unter bis heute nicht restlos geklärten Umständen aus dem Leben geschiedenen CDU-Landesfürsten in einem Feuerwehrzelt im norddeutschen Flecken Alt Bennebek. Barschel wirkte als ein unter Tabletteneinwirkung stehendes und an Krücken gehendes „früh vollendetes, ehernes Denkmal“, dass nach einer dürren Rede für ein bisschen mehr Beifall zum Schrecken seiner Parteifreunde einen Stuhl erklomm, die Hände ausbreitete und ein Bild des Jammers bot. Leinemanns Folgerung als Gemeinplatz: „Die Anstrengungen, die Politiker heute im Alltag bringen müssen, um nicht unterzugehen, sind weitaus größer als in den Anfangszeiten der deutschen Nachkriegspolitik.“ Jürgen Leinemann ist in Wort und Schrift authentisch. Er ist ein kühler Analytiker, der sich jeden Zynismus versagt und dessen Betrachtungen den „unbedarften“ Zuhörer schockieren müssen. „Ich habe auf dieses Buch von Spitzenpolitikern ganz erstaunliche Reaktionen erhalten. Thierse fand es okay, Angela Merkel meinte, dass der Trend stimmt. Joschka Fischer hingegen warf verbittert ein, dass ich nicht in der Lage sei, zwischen Sucht und Leidenschaft zu differenzieren.“ Der Autor, der übrigens als Wähler seit Willy Brandt keinen deutschen Kanzler im Amt bestätigt sehen wollte, hat auch sein ganz persönliches Feindbild: „Alles was ich tun kann, um zu verhindern, dass Guido Westerwelle einmal an ein Regierungsamt gelangt, werde ich tun.“Thomas Gantz

Thomas Gantz

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