Kultur: Französisch
Henri Ormieres in der Friedenskirche
Stand:
Gnadenlos hämmert der unverwechselbare Bolero-Rhythmus auf der kleinen Trommel die Vorgabe für Nein, nicht für Ravels unverwüstliche Klangorgie, sondern für den nicht minder mitreißenden „Boléro sur un thème de Charles Raquet“ des Franzosen Pierre Cochereau (1924-1984). In der Anlage ist er ähnlich gestrickt wie das Ravelsche Vorbild und krönt in der Friedenskirche den Orgelsommer-Auftritt von Henri Ormieres, der als Organist an der Saint-Vincent-Kirche im südfranzösischen Carcassonne tätig ist. Sein geplantes Programm hat er kurzfristig geändert, indem er den zahlreich Erschienenen die Bekanntschaft mit einigen, weitgehend unbekannten Komponisten spanisch-französischer Herkunft verweigert und sie stattdessen um andere, ebenfalls weniger geläufige Namen ersetzt. Französisch bleibt’s dennoch.
Statt Couperin meldet sich eingangs Jean-François Dandrieu (1682-1738) zu Wort. Sein Offertoire sur l’Hymne „O filii“ beeindruckt durch ihre Schlichtheit, wobei die Melodiestrophen sich als Variationen entpuppen, die der Organist abwechslungsreich verziert, rhythmisch und dynamisch raffiniert verändert und mit Zungenstimmen (Vox humana) sprechen lässt. Es leuchtet und strahlt. Der Refrain singt sich in kompakter, akkordischer Form aus. Das französisch geprägte, dritte Manual der Woehl-Orgel verhilft auch zwei kleingliedrigen Tientos (dem Ricercar entsprechende Instrumentalstücke des 16. Jh.) des Spaniers Pablo Bruna (1611-1679) zu einer klangfiligranen Wiedergabe, wobei das Trompetenregister entsprechendes Kolorit beisteuert. Eher kompakt, einheitlich registriert, gleichmäßig im Metrum strömt das „Salve“ des Pedro de Araujo (1662-1705) breit dahin: ohne „Sehenswürdigkeiten“ am imaginären Uferrand.
Von gehaltvollerem Zuschnitt zeigt sich das Adagio aus der 3. Orgelsymphonie des Spätromantikers Louis Vierne (1871-1937). Seine Wiedergabe ist geprägt vom Einsatz des starken Tremulanten, flötenlieblicher, singender Soloregister sowie klangfülligen Anschwellens. Sehr erbaulich. Weit weniger allerdings „Chant de Joie“ (Lied der Freude) aus der Sammlung „Neun Stücke“ des Modernisten Jean Langlais (1907-1991), ein grelles, dissonanzenreiches, akkordisch geprägtes Stück. Durchdringende, prinzipalstimmengeschärfte Klangkost. Dagegen besticht „Chant de paix“ (Lied der Ruhe) durch zart getönte Innigkeit, eine weiche und verschwimmende Besänftigung der Seele. Was sich in ätherischen Höhen aussingt, klingt sehr nach ähnlichen Versenkungen und Versuchungen eines Olivier Messiaen.
Dann folgen die des Pierre Cochereau mit seiner Bolero-Imagination. Unbeeindruckt von den ständigen Veränderungen des tänzerisch beschwingten Themas, das sich in den verschiedenen Klanggewändern vorführt, trommelt Daniel Tummes exakt und unerbittlich den Rhythmus. Er gewinnt an Lautstärke und tokkatischer Direktheit. Auch die Orgel treibt voran. Wird das Stück im vollen Orgelwerk nebst den Fortissimo-Schlagwerkattacken in den dissonanten Zusammenbruch à la Ravel stürzen? Kurz vorm explodierenden Sinnenrausch vollzieht sich völlig überraschend die Ermattung in Form eines Decrescendo. Auch die Trompetenstimmen werden allmählich leiser. Es hört sich an, als entferne sich langsam ein Armeetross, gefolgt von tanzenden Marketenderinnen. Dann werden die Klänge leicht und licht. Abrupt, geradewegs pointiert hört dieser Bolero auf - als sei ihm die Luft ausgegangen. Das Duo sieht sich gefeiert. Peter Buske
Peter Buske
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