Kultur: Freiräume und ein Derwisch
10. Bachtage Potsdam: Eröffnung in der Friedenskirche und Goldberg-Variationen in der Nikolaikirche
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Geschäftig eilen die Musiker im Altarraum umher. Sie rücken hier einen Stuhl, dort noch schnell ein Notenpult zurecht. Bläser üben Läufe, Triller und Stakkati, währenddessen einzelne Streicher ihre Darmsaiten auf einen einheitlichen Intonationsstandard bringen. Kurzum: die übliche Hektik, wie sie vor einem Konzert in einem Gotteshaus herrscht. Spannung baut sich auf – auch beim Publikum, das für eine vollbesetzte Friedenskirche sorgt. Es freut sich am Freitagabend spürbar auf den klingenden Startschuss für die 10. Bachtage unter Leitung von Nikolaikantor und Festivalchef Björn O. Wiede. Doch ehe er seines inspirierenden Amtes vom Cembalo aus walten kann, überbringt Bürgermeister Exner die Grüße des Stadtoberhauptes. Seine langatmigen, akustisch unverständlichen, weil tontechnisch nicht verstärkten Worte lassen die Zuhörer zunehmend unruhiger werden. Ungeteilte Aufmerksamkeit dann für Johann Sebastian Bach, dessen Werke einen Hörgenuss für einen guten Zweck versprechen, ist das Eröffnungskonzert doch zugleich ein Benefiz des Service Clubs für die „Potsdamer Tafel“.
Die geduldserheischenden Ein- und Feinabstimmarbeiten der achtzehn Musiker des „Exxential Bach“-Ensembles, ad hoc aus in- und ausländischen Barockspezialisten zusammengestellt, sind beendet. Die „Brandenburgischen Konzerte“ können beginnen. Was nichts anderes meint als jene „Six Concerts avec plusiers Instruments“, die erst im 19. Jahrhundert durch den Bach-Biografen Philipp Spitta ihren regionaltypischen Namen erhielten – wegen des Widmungsträgers Markgraf Christian Ludwig von Brandenburg-Schwedt, jüngstem Sohn des Großen Kurfürsten, der zuweilen im Berliner Stadtschloss logierte. Er liebte die Musik, hatte sich Bachschen Besuchs erfreut und daraufhin vom Tonsetzer einige Stücke erbeten.
Aus diesem Six-Pack erklingen nun drei Concerti, deren Wiedergaben sich ausnahmslos durch eine spannende instrumentale Beweglichkeit, federnde Lockerheit und lebendige Eleganz auszeichnen. Zügige, aber nie überakzentuierte Tempi sorgen für stete Abwechslung. Die Hinwendung zur historisierenden Musizierweise erfolgt konsequent, aber nicht in einer akademisch-gelehrten Nachahmung. Stattdessen erspielt man sich notengetreue Freiräume, in denen heutige Ohren die Gemütsempfindungen des Altvorderen genießen können.
Trompetenumglänzt zeigen sich die Ecksätze des F-Dur-Concerto BWV 1047, während das ruhig fließende Andante vom sanft wiegenden Gesang von Violine und Blockflöten lebt. Strukturgefüge wird hier wie in den anderen Stücken durchweg transparent gehalten, was das Hörvergnügen merklich steigert. Wie beim G-Dur-Concerto BWV 1048 für Streicher, die beschwingt die kunstvollen Themenverknüpfungen zu Gehör bringen. Als eine spiellaunige Abendmusik, etwas gedeckt im Klang, entpuppt sich das in gleicher Tonart stehende Concerto BWV 1049 mit zwei melodiewiegenden Blockflöten und der Saitenakrobatik der Solovioline. Dagegen sorgt schmerzvolle Seufzermelodik für den nötigen, überzeugend ausgespielten Kontrast.
Des Wetteiferns um die Gunst des Publikums scheint auch in der finalen Orchestersuite Nr.3 D-Dur BWV 1068 kein Ende. Neben den Streichern sorgen drei Barocktrompeten, zwei Oboen nebst wirbelnden Pauken für festlichen, kraftvoll rhythmisierten, jauchzenden und frohlockenden Glanz. Ganz ohne sentimentalischen Zuckerguss singt das berühmte Air in geradezu rationaler Zärtlichkeit sein inniges Lied. Der Jubiläumsstart wird ausgiebig bejubelt.Peter Buske
„Was ist denn an der Partitur von Bachs Goldberg-Variationen für Orgel anders, als an der Partitur fürs Klavier?“ Erstaunen über so viel Unkenntnis lässt den Organisten Franns Promnitz nach dem gerade vollendeten Konzert in der Nikolaikirche am vergangenen Samstagabend einen Moment lang stocken. „Na womit spielen Sie denn Klavier und womit die Orgel? Mit den Füßen. Die Noten bleiben gleich, aber für die Orgel muss ein Teil der Melodie auf die Füße umgeschrieben werden. Sie müssen also ganz anders greifen, als auf dem Klavier.“ Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen (BWV 988) klingen Kennern vor allem in den Aufnahmen des kanadischen Pianisten Glenn Gould im Ohr. Die Aria und die erste Variation sind auch als Titelmelodie des Films „Der englische Patient“ bekannt. Es gibt viele Versionen dieser komplexen Komposition. Auf der Orgel hört man die Goldberg-Variationen jedoch selten. Noch seltener wird dazu getanzt, wie an diesem Abend in der Nikolaikirche, an dem sich der Dresdner Ausdruckstänzer und Choreograph Manfred Schnelle vor dem Altar zu den Tönen bewegt.
In der Einleitung zum Konzert gibt sich Organist Franns Promnitz lehrerhaft, betet Jahreszahlen und Namen herunter, bis er endlich bei der Entstehung der Goldberg-Variationen angekommen ist, um dann ein paar technische Besonderheiten des Stückes hervorzuheben. Dass es in zwei Teile aufgeteilt ist, wobei die Ouvertüre nicht wie üblich am Anfang steht, sondern in der Mitte, zu Beginn des zweiten Teils. Promnitz vermutet darin einen musikalischen Schabernack. Dankbar greift er die nicht belegte Anekdote des Cembalisten Goldberg auf.
Der junge und hochbegabte Schüler Bachs, soll eben diese Variationen einem mit Bach befreundeten Grafen Hermann Carl von Keyserlingk in schlaflosen Nächten wieder und wieder vorgespielt haben. So sei auch später der Name für die „Clavierübung“ entstanden. Goldberg-Variationen. „Clavier mit C“, hebt der Organist hervor, denn Klaviere im heutigen Sinne gab es damals noch nicht und Clavier stand für alle Tasteninstrumente.
Zehn Melodien, die je drei Mal variieren, am Anfang und am Ende von einer sogenannten Aria umrahmt werden, machen die 32 Sätze der Goldberg-Variationen aus. In den Klängen der Musik kann man den Ausdruck tiefer Gefühle wie Schmerz, Sehnsucht, Freude, Kraft und Trauer wieder finden. Eben diese Empfindungen, vor allem die schweren, bewegen den Ausdruckstänzer Manfred Schnelle an diesem Abend.
Als kleines Männchen erscheint er in einer grauen Kutte vor dem weißen Altar. Zwei helle Bartstreifen rechts und links im Gesicht sind die Farbflecken in seinem Kostüm. Vor allem seine Hände und Füße tanzen, greifen, flehen, trippeln. Der Rest des Körpers verharrt in leicht vorgebeugter Haltung. Er holt Schwung mit den Armen, sie müssen den schon steifen Rücken herumwirbeln helfen. Wie ein wirbelnder Derwisch dreht er sich. Schnelle geht in die Knie, soweit es noch geht, beugt sich langsam. Streckt Arm und Bein vorsichtig aus zu einer kleinen Arabeske. Wenn er in den schnellen Variationen, wie der ersten und der vierten, euphorisch wird, hüpft er und winkelt das rechte Bein an. Er ruckt und zuckt, seine Bewegungen orientieren sich nicht immer am Tempo der Musik.
Dass Manfred Schnelle früher einmal ein geschmeidiger Tänzer des Dresdener Staatsballetts war, ist heute schwer vorstellbar. Er verharrt immer wieder in den gleichen Posen, die eine Hand greift nach der anderen oder Richtung Herz, der Blick ist an die Decke auf einen unsichtbaren Gott gerichtet. Eine Dramaturgie seiner Choreographie gibt es nicht. Nur die Drehung des Kopfs ins Publikum, genau auf dem letzten Ton eines Stücks und der für klassische Tänzer so typische schreitende Auftritt sitzen immer. Da scheint Schnelle wieder auf der großen Bühne eines Theaters zu stehen. Seine so offensichtlich große Leidenschaft seinen Körper zur Musik zu bewegen ist dann auch, was diesen Abend sympathisch macht.
Von dieser Andacht ist in dem Orgelspiel von Promnitz jedoch wenig zu spüren. Im Gegensatz zu dem spirituellen Tanz hinter seinem Rücken, liegt ihm mehr an der Leichtigkeit und Geselligkeit der Stücke. Er scheucht die Noten durch Saal. Mag es auch der hallenden Akustik des Raumes geschuldet sein, Bach erinnert plötzlich weniger an Gottesdienst, als an Jahrmarkt. Ob der Graf von Keyserlingk wohl hätte schlafen können, wenn man Goldberg ihm auf einer Orgel vorgespielt hätte? Undine Zimmer
Peter Buske
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