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Kultur: Ganz nah an Jesu Leiden

Potsdamer Bachtage mit Matthäus-Passion eröffnet

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Potsdamer Bachtage mit Matthäus-Passion eröffnet Der Vermutungen ist noch immer kein Ende. Hat Johann Sebastian Bach seine „Matthäuspassion“ zur Karfreitagsvesper in der Thomaskirche zu Leipzig anno 1729 aufgeführt oder bereits zwei Jahre vorher? Doch nicht nur darüber streiten sich die Gelehrten. Auch über die Anzahl der Sänger pro Stimmgattung, die die Chöre zu singen haben. Nikolaikantor Björn O. Wiede folgt bei seiner spannenden Auslegung der „Matthäuspassion“, mit der er in der Babelsberger Friedrichskirche die Bachtage 2004 eröffnet, den Ansichten englischer Musikwissenschaftler, die einen Sänger pro Part für ausreichend und authentisch halten. Wer''s glaubt In der doppelchörig angelegten Musik lässt er also zweimal vier Sänger agieren, sozusagen ein Doppelquartett. Der Eingangs-Chor „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ - dem leider die sängerische Wiedergabe des eingeschlossenen Chorals „O Lamm Gottes unschuldig“ vorenthalten bleibt - soll so gelingen? Allen Befürchtungen zum Trotz gelingt der Plan. Auch später erreichen die kommentierenden Einwürfe aus acht Kehlen die erforderliche Prägnanz. Was daran liegt, dass dieser „Coro“ aus Solisten besteht. Sie treten immer wieder aus der Gemeinschaft heraus, um die Solopartien zu absolvieren. Ein konzentrationsverlangendes Verfahren. Doch nach welchen Gesichtspunkten werden ihnen die Arien zugeteilt? Wieso wird die Sopran-Arie „Blute nur, du liebes Herz“ von Astrid Werner gesungen und nicht von der stimmgattungsgleichen Christine Wolff, die dafür „Ich will dir mein Herze schenken“ anstimmt, mit dem innig vorgetragenen Bekenntnis „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ begeistert? Kaum findet sie Zeit, ihre blitzblanken Stimmbänder aus der leuchtkräftigen, höhenstrahlenden und flötenlieblich begleiteten „Einbahnstraße“ auf die Erfordernisse chorischen Gesangs umzustellen. An ihrer Seite weiß sie weitere Könner. Allen voran Andreas Post, der in der Rolle des anteilnehmenden Evangelisten mit seinem kräftigen, höhenleichten, Glanz und Wonne verbreitenden Tenor restlos überzeugt. Durch ihn ist man innerlich ganz nah an Jesu Leiden und Mission. Diesem leiht Andreas Jäpel den bassbaritonalen Wohllaut seiner lyrisch geprägten Stimme. Auch er Vertreter des natürlichen, schlichten Vortrags, dem jegliche salbadernde oder larmoyante Seelenergüsse fremd sind. Er auch ist''s, der die lyrischen Bassarien „Mache dich mein Herze“ und „Komm süßes Kreuz“ mit ihren tröstlichen und hoffnungsfroh stimmenden Botschaften singt. Die Altarien wiederum sind gesplittet und zum einen dem Altus Alexander Schneider überantwortet, der mit seiner instrumental geführten Stimme einem objektivierenden Ausdruck huldigt. Lapidar klingt die „Buß und Reu“-Arie, nicht weniger nüchtern und stimmsteif „Erbarme dich mein Gott“. Gefühlsinnig sind beide Bekundungen nicht. Da weiß Jale Papila als zweite Alt-Anwältin in ihrem Plädoyer „Können Tränen meiner Wangen“ mit besserer Rhetorik und weniger artifiziellen Finessen aufzuwarten. Sie gibt dem Coro II, in dem noch Astrid Werner, Christian Mücke (Tenor) und Timothy Sharp (der mit markantem Bass für die viel zu schnell absolvierte Arie „Gebt mir meinem Jesum wieder“ sowie die dramatischen Einwürfe des Judas, Petrus, Pontifex und Pilatus zuständig ist) mitwirken, die nötige „Füllfarbe“. Auch wenn einiges nicht so glanzvoll klingt, finden die Vier zu einem chorischen Singestil. Den lässt der Coro I jedoch vermissen. In ihm bleiben die Solisten was sie sind: Solisten, die ein Quartett singen. Homogen hört sich das nicht immer an. Die Choräle stimmt der Nikolaichor Potsdam sehr geschmeidig und klangvoll an, allerdings in identischer Stimmungslage und schnellen und ruhelosen Tempi. Dadurch ist jedoch eine gewisse Distanz zum Geschehen unüberhörbar. Seine Deutung gleicht eigentlich einer Kammeropernversion. Sie gibt sich konsequent. Fern jeglicher romantisierender Anwandlungen ist sie frisch, klangleicht und lebendig auf den Punkt gebracht. Die Dramatik gelingt solcherart vorzüglich, das Betrachtende weit weniger. Leicht hat es der Dirigent aber auch nicht, denn er muss das bunt zusammengewürfelte vokal-instrumentale Ensemble, genannt „The Essential Bach Choir“, zu einheitlichen Klangvorstellungen führen. Leider lässt es sich nicht verhindern, dass die Streicher mitten im musikalischen Geschehen ihre darmsaitenbespannten Instrumente nachstimmen, was unweigerlich zu Spannungsverlusten führt. Trotz vorheriger Bitte um gebührliche innere Versenkung brandet der Beifall schnell auf. Peter Buske

Peter Buske

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