Von Dirk Becker: „Geboren, gestorben, ... angeschissen“
Fast hätte er in Potsdam Spuren hinterlassen: Ein filmisches Porträt über Oscar Niemeyer
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Er wirkt regelrecht verloren, wie er dort, vor dem Museum of Modern Art am Strand von Niteròi, gegenüber von Rio de Janeiro, für die Kamera spaziert. Vielleicht liegt es daran, dass mit ihm nur wenige Menschen unterwegs sind. Vielleicht aber auch an der Kameraeinstellung, die Oscar Niemeyer vor diesem Museum, das einen sofort an eine fliegende Untertasse erinnert, so klein und verloren aussehen lässt. Und man denkt an diesen Satz, den Niemeyer zuvor gesagt hatte. Dass der Mensch öfter hoch zum Himmel schauen sollte, um sich wieder bewusst zu werden, wie klein und nichtig er doch ist. Doch auch die zahlreichen Gebäude, die der weltberühmte brasilianische Architekt Oscar Niemeyer entworfen hat – darunter auch da Museum of Modern Art von Niteròi –, scheinen vor allem eines zu wollen: Den Menschen klein halten.
Diesen Eindruck vermittelt der Film „Oscar Niemeyer. Das Leben ist ein Hauch“, der heute in die Kinos kommt. Es ist ein sensibles Porträt des mittlerweile 102 Jahre alten Architekten, der auch in Potsdam seine Spuren hinterlassen hätte, wenn sein Entwurf für ein Freizeitbad am Brauhausberg umgesetzt worden wäre. Vor genau fünf Jahren hatte die Stadt stolz verkündet, dass Niemeyer den Auftrag für einen Bad-Entwurf erhalten habe. Fünf Monate später wurde der Entwurf mit der so typischen Niemeyerschen Handschrift im Nikolaisaal vorgestellt. Der von kritischen Stimmen begleiteten Begeisterung folgte bald Ernüchterung, da die veranschlagten Kosten von 31,5 auf 48 Millionen stiegen. Es folgten Nachbesserungen am Finanzierungskonzept, und immer mehr Kritik. Vor zwei Monaten dann das Ende; Potsdam verabschiedet sich endgültig von Niemeyers Entwurf. Aus der Traum vom großen Architekturwunder an der Havel.
Es ist diese Episode, die man ständig im Hinterkopf hat, wenn man sich „Das Leben ist ein Hauch“ anschaut. Ein wenig Was-wäre-wenn, das einen begleitet, wenn die Niemeyerschen Monumente auf der Leinwand vorüberziehen.
In „Das Leben ist ein Hauch“ erzählen Fabiano Maciel und Sacha auf der einen Seite das Werden des Architekten Oscar Niemeyers. Auf der anderen gibt dieser Film, der 2007 in Brasilien anlässlich Niemeyers 100. Geburtstag entstanden ist, sehr tiefe Einblicke in die Lebenssicht des Stararchitekten. Und die fällt, nun ja, sehr ernüchternd aus.
„Geboren, gestorben, ... angeschissen“, lautet das Resümee, das Niemeyer am Ende von „Das Leben ist ein Hauch“ zieht. Als Zuschauer ist man da über so viel Pessimismus (oder Lebenserfahrung) nicht mehr überrascht. Denn immer wieder hat Niemeyer im Laufe der 85 Minuten den Schriftsteller Jean Paul Sartre zitiert, für den die menschliche Existenz nur ein Fehler gewesen war. Und mehrmals ist Niemeyer mit dem Satz zu hören, der dem Film auch den Titel gab: „Das Leben ist ein Hauch“. Mehr nicht.
Daneben dann die monumentalen Gebäude, die Niemeyer auf der ganzen Welt hat bauen lassen. Das Ministerium für Bildung und Gesundheit in Rio de Janeiro aus dem Jahr 1937, zusammen mit seinem Lehrer Lucio Costa und Le Corbusier. Das Hauptgebäude der Vereinten Nationen in New York, die Kirche São Francisco und die Casa do Baile in Pampulha bei Belo Horizonte. Den Alvorada-Palast, den Itamarati-Palast, den Planalto-Palast, den Platz der drei Gewalten und den Obersten Gerichtshof in der künstlich geschaffenen Hauptstadt Brasilia. Es sind Gebäude, die, wie es sich Niemeyer von Architektur wünscht, staunen lassen und in denen sich seine Liebe für die Kurve, Sinnlichkeit, einfach die Schönheit fließender Formen manifestiert.
Architektur, so Niemeyer, ist zuerst immer eine Idee, etwas Neues, deren alleiniger Zweck Schönheit sei. Die Pyramiden in Ägypten haben keinen Nutzen, sie seien aber wunderschön. Ähnlich wie der distanzierte Blick auf die Pyramiden schaut man in „Das Leben ist ein Hauch“ auch auf die erhabenen Gebäude Niemeyers, der der letzte noch lebende Vertreter der klassischen Architektur-Moderne des letzten Jahrhunderts ist. Der Film präsentiert sie als Denkmäler oder Stillleben; der Mensch ist hier nur Nebensache, fast schon Fremdkörper. Mittelmäßigkeit hat hier keinen Platz. Denn es sind nicht die einfachen Häuser, die bleiben, sondern die Kathedralen, wie Niemeyer sagt. Und so widert ihn auch die Mittelmäßigkeit vieler Fragen an, warum sich bestimmte Formen bei ihm ständig wiederholen oder warum seine Plätze nicht bepflanzt sind. Das würde doch wenigstens Schatten spenden.
Oscar Niemeyer wirkt oft wie ein Stoiker, der die Verhältnisse durchschaut und die eigene Nichtigkeit erkannt hat. Trotzdem genießt er sein Leben, empfindet Freude und schafft diese einmalige Architektur. Das mag nur für den ein Widerspruch sein, der Niemeyer nicht verstehen kann, nicht verstehen will. In dieser Hinsicht ist „Das Leben ist ein Hauch“ ein sehr ehrliches, gleichzeitig aber auch äußerst ernüchterndes Porträt. Aber durch Niemeyers Worte öffnet es einem die Augen für die manchmal schon so ferne und utopische Schönheit seiner architektonischen Ideenwelt. Denn trotz aller Desillusionierung und Abgeklärtheit ist Oscar Niemeyer vielleicht einer der größten Träumer und Schwärmer auf dieser Welt.
„Oscar Niemeyer – Das Leben ist ein Hauch“ ist am Samstag, 16. Januar, und Sonntag, 17. Januar, jeweils um 15 Uhr in den Thalia Arthouse Kinos, Rudolf Breitscheid Straße 50, zu sehen
Dirk Becker
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