Von Astird Priebs-Tröger: Gegen Einsamkeit und Verzweiflung
„Der Junge mit dem Koffer“ als deutschsprachige Erstaufführung am Hans Otto Theater
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Bilder von Gewalt und Krieg kennen sie schon aus Film und Fernsehen. Reale Erfahrungen von Hunger, Flucht und Tod haben Kinder heute in der Mehrheit zum Glück jedoch noch nicht. Solch existenzielle Wucht glaubhaft zu vermitteln und Empathie für die zu entwickeln, denen sie widerfuhr, und die jetzt vielleicht die Banknachbarn in der Schule sind, ist ein schwieriger Spagat. Die deutschsprachige Erstaufführung von „Der Junge mit dem Koffer“ des britischen Autoren Mike Kenny, die am gestrigen Donnerstag in der Reithalle A die neue Spielzeit des Hans Otto Theaters eröffnete, befasst sich unter der Regie von Katharina Holler mit diesem vielschichtigen und komplizierten Thema.
Der halbwüchsige Naz (Friedemann Eckert) muss mit den Eltern aus seinem arabischen Heimatdorf fliehen. Eine mehrjährige und oft lebensgefährliche Reise steht ihm bevor. Er wird dabei reifen und am Ende, das Ziel seiner Sehnsucht – das ferne Berlin, von dem sein Bruder schrieb, „dass es das Paradies auf Erden sei“ – erreichen. Das weiß der Zuschauer von Anfang an, denn Naz beginnt in europäischer Kleidung die Geschichte seiner Flucht als Rückblende zu erzählen. Zu Beginn schildert er liebevoll sein Zuhause und erinnert sich an das Ritual seines Vaters, ihm jeden Abend von „Sindbad, dem Seefahrer“, aber auch eigene und mit viel Lebensweisheit gewürzte Geschichten zu erzählen.
Als seine Kindheit durch die Flucht abrupt endet und, weil die Eltern (Josip Culjak, Franziska Melzer) kein Geld für drei Busfahrkarten aufbringen können, auch die Trennung von ihnen stattfindet, sind es diese Geschichten, die er als einziges und wichtigstes Erbe in seinem Koffer trägt. Sie helfen ihm und seiner Weggefährtin Krysia (Franziska Melzer), mit lebensbedrohlichen Situationen genauso fertig zu werden wie mit Einsamkeit und Verzweiflung. Das wird berührend erzählt und die meisten der jungen Zuschauer verfolgen konzentriert das dramatische Geschehen auf der Bühne, die Regina Fraas mit viel weißem Stoff, der mal Behausung, mal Bus oder auch Schneewüste ist, ausgestattet hat.
Aber es gibt auch Theaterbesucher, die an Stellen, wo ihnen eigentlich eine Gänsehaut über den Rücken laufen müsste, lauthals lachen oder durch Zwischenrufe stören. Das scheint nicht nur daran zu liegen, dass sie beispielsweise durch Computerspiele Action gewöhnt sind, nein, an Stellen wie der Szene mit den Wölfen im Gebirge hat die Regie einfach zu dick aufgetragen, anstatt auf die Einbildungskraft der jungen Zuschauer zu setzen. Und der Schmuggler, Soldat und Seemann (Eddie Irle) ähnelt eher coolen Actionhelden als dem Bösen, das wirklich Angst macht. Damit wird einiges von der angestrebten Wirkung genommen.
Stattdessen sollte hier auf die Kraft der Geschichten und eines leibhaftigen Erzählers vertraut werden, was über weite Strecken ja auch getan aber eben nicht konsequent genug umsetzt wird. Manchmal ist es auch eine Frage des Tempos. Denn auch wenn der Junge Naz weit weniger Erfahrung als sein alter Vater mit dem Erzählen hat, schafft es Friedemann Eckert, durch seine Begeisterung und Authentizität seine Zuhörer zu bannen. Zuerst die gleichaltrige Weggefährtin Krysia, die Franziska Melzer abwechselnd mit mädchenhafter Spröde und mütterlicher Wärme gibt, und deren erlebte Traumata nur angedeutet werden. Aber gerade die Beziehung der beiden Jugendlichen, deren Vertrautheit immer mehr wächst, bietet riesige Chancen, das wirklich Schwere anzusprechen und so für andere junge Menschen nachfühlbar zu machen. Auch wenn das für Zuschauer ab neun Jahren wirklich keine leichte Kost ist. Da gab es eindringliche Szenen, als die beiden mit dem Soldaten oder dem skrupellosen Nähereibesitzer fertig werden mussten.
Am Ende langer freundlicher Beifall. Manche Zuschauer sannen dem Gesehenen sichtlich nach, andere dagegen wollten so schnell wie möglich den Zuschauerraum verlassen.
Nächste Vorstellung am heutigen Freitag, 10 Uhr, und am 27. September, 10 und 18 Uhr, in der Reithalle A
Astird Priebs-Tröger
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