Von Dirk Becker: Genieß es oder lass es!
Eine rasante Reise durch die heillose Welt des Nigel Kennedy im Nikolaisaal
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Er hat auch gesungen. Obwohl er es überhaupt nicht kann. Einen Blues, den ein Mann überkommt, wenn eine Einkaufstour mit seinem Eheweib ansteht. Am Bühnenrand stand Nigel Kennedy, grinste ins Publikum und klagte mit hoher, dünner Stimme sein Leid. „I woke up this mornin.“ Diese Bluesstandard-Erste-Zeile. Bei jedem anderen hätte man hier das vorzeitige Ende gefordert. Des guten Geschmacks wegen und aus Respekt gegenüber den alten Bluesheroen.
Doch Nigel Kennedy darf das. Besser gesagt, er macht es einfach. Ob es nun gut klingt oder nicht. Da wird der 51-Jährige wieder zu einem Jungen, dem der Spaß gegönnt sein soll. In dem Saxophonisten Tomasz Grzegorski hatte er da den perfekten Spielpartner. Der gab die vor Vorfreude schon hysterische Ehefrau und krähte mit sich überschlagender Stimme in das hingehaltene Mikrofon. Herrlichster Machismo pur, den Kennedy und Grzegorski mit meckerndem Lachen begleiteten. Genieß es oder laß es! Ein Dazwischen gibt es bei einem Konzert von Nigel Kennedy und Co nicht.
Nigel Kennedy. Der Name genügt, wirkt wie ein Zauberwort. Nigel Kennedy im Nikolaisaal. Da hat es wohl niemanden verwundert, dass das Konzert seit Monaten schon ausverkauft war. „A very nice concerto - Melody & Invention“, so der Titel des ersten Potsdamer Crossover Konzerts in der aktuellen Saison, bei dem sich der Punk-Geiger, wie Kennedy ob seines unkonventionellen Outfits und seiner markanten Stachelfrisur gern bezeichnet wird, von seinem Jazzquintett und dem Filmorchester Babelsberg begleiten ließ. Apropos Outfit. Kennedy hatte den Dirigenten Julian Kershaw überredet, am Konzertabend ein rosa Hemd plus altmodischen, schwarz samtfarbenen Gehrock mit prachtvollen Knöpfen zu tragen. Kennedy war begeistert und verkaufte dem Publikum diesen Aufzug als „Outfit eines schwulen Seemannes“. Kershaw nahm es gelassen.
Das Bild vom Seemann, des rechtlosen Freibeuters, es passt auch perfekt auf das musikalische Outfit des Ausnahmegeigers Kennedy. Im Alter von sieben Jahren erhält er ein Stipendium der Yehudi Menuhin Schule, wird vom Großmeister persönlich unterrichtet und wechselt mit 16 an die renommierte New Yorker Juilliard School, wo Dorothy DeLay ihn ausschließlich auf eine klassische Karriere eichen will. Doch Kennedy ist schon damals zu sehr Querkopf und offen für die unterschiedlichsten Stile. Ein Seminar bei dem Jazzgeiger Stéphane Grappelli und ein gemeinsamer Auftritt in der Carnegie Hall sollten nicht ohne prägenden Einfluss bleiben.
Als klassischer Musiker hat sich Kennedy einen Namen gemacht. Seine Aufnahme von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ vor zwölf Jahren soll sich bis heute mehr als zwei Millionen Mal verkauft haben, in diesem Jahr hat er eine Aufnahme mit Beethovens und Mozarts Violinkonzert Nr. 4 auf den Markt gebracht. Doch seine große Liebe gehört dem Jazz. Hier findet er all die Freiheiten und Möglichkeiten, die unterschiedlichsten Stile und Einflüsse in ein musikalisches Korsett zu packen. Am Samstag im Nikolaisaal war das als zweieinhalbstündige Berg- und Talfahrt zu erleben.
Kennedy im Konzert, das bedeutet, sich auszusetzen, zu genießen, sich aber auch strapazieren und bearbeiten zu lassen. Eine Reise durch den musikalischen Kosmos dieses genialischen und kompromisslosen Kopfes ist weniger eine Genusstour. Der Freibeuter Kennedy fordert den Zuhörer mit der Themenvielfalt, den zahlreichen Zitate und Anspielungen in seinen Jazzstücken. Immer blieb er dabei, egal wie exquisit die anderen Musiker auf seine Vorgaben auch reagieren, „primus inter pares“. Kennedy jagte seine Violectra-Electrogeige durch zahlreiche Effektgeräte. Immer wieder gab es an diesem Abend Momente, wo man nur mit offenem Mund den Kapriolen auf dem Griffbrett und dem musikalischen Aberwitz des Punk-Geigers folgen konnte. Es gab aber auch Momente, da fiel es schwer, diesem Mann in seiner Geschwindigkeit durch seine heillose Welt zu folgen.
Am Ende ein über das ganze Gesicht strahlender Nigel Kennedy auf der Bühne. Im Saal ein dankbares, aber auch geschafftes Publikum
Dirk Becker
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