Kultur: Gerade noch rechtzeitig
Keimzeit-Auftakt zur „Mensch Meier“-Tour
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Im letzten Jahr erschien mit „Familienalbum II“ eine weitere Hommage an Ton Steine Scherben-Sänger Rio Reiser, auf der sich Bands aller Gattungen am musikalischen Nachlass von Reiser und seinen Scherben probierten. Keimzeits Version von „Mensch Meier“ gehörte zu den besten Versuchen sich Reiser zu nähern und ihn nicht, wie die Kollegen Joachim Deutschland und Anett Louisan, belanglos in Szene zu setzen. Im Frühjahr dieses Jahres gab es eine kleine Clubtour, deren Aufnahmen nun auf CD-Form auf „Mensch Meier – Live 2006“ zu hören sind.
Da Norbert Leisegang und seine Mannen nicht stillstehen können, haben sie die Tour gleich neu aufgelegt und – heimatverbunden wie sie nun einmal sind – den Potsdamer Lindenpark als Startpunkt gewählt. Dort vertreiben Radiopilot aus Berlin die Zeit bis zum Hauptact auf angenehme Art: die junge Band spielt sich mit sattem Sound und im Einheits-Dress durch eine überraschend arrangierte Show. Jugendlicher Leichtsinn mischt sich mit an Banalität kratzenden Texten, die noch so unverdorben weltfremd sind, dass einem das Herz aufgeht. Ihr Kreativ-Pop schrammt an der Schnulze knapp vorbei, wobei die Jungs daraus keinen Hehl machen und einige Titel gleich selbstironisch als Schlager ankündigen. Mit einer sympathischen Anbiederung – einer Coverversion von Keimzeits „Kling Klang“ – verabschieden sich Radiopilot.
Unspektakulär schlurfen dann Keimzeit auf die Bühne und schnappen sich ihre Instrumente. „Irrenhaus“, „Bunte Scherben“, „Etwas höher nur der Mond“: der Einstieg ist schwerfällig, der Motor von Keimzeit – immerhin auch schon über 25 Jahre am Knattern – kommt nicht richtig in Fahrt.
„Projektil“ sorgt kurzzeitig für Gänsehaut und geht wie das titelgebende Objekt im Song mitten ins Herz. Doch intime Momente in denen Sänger Leisegang in inniger Zweisamkeit mit seiner Telecaster „Was ich im Wasser sah“ intoniert, werden von einem Großteil des Publikums zerquatscht. So plätschert das Konzert eine Stunde ohne echte Höhepunkte vor sich hin, auf das große musikalische Feuerwerk wartet man vergebens. Eher ist es eine Wunderkerze: hübsch anzusehen, aber recht unspektakulär.
Dann ertönt ein hartes Riff von den Tasten und Sekunden später singt der gesamte Lindenpark-Saal: „Nee, nee, nee, eher brennt die BVG!“ Der Ton Steine Scherben-Gassenhauer „Mensch Meier!“ war längst überfällig, kommt aber gerade noch rechtzeitig. Der Sänger löst sich aus seiner Statik und wirbelt um seine Mitspieler. Ab diesem Moment ist das Publikum gefesselt: brav singen die Zuschauer als großer Matrosenchor den Schunkler „Singapur“ mit und legen sich bei „Kling Klang“ derart ins Zeug, dass Norbert Leisegang den größten Teil des Liedes die Fans singen lässt.
Tausend Kehlen helfen Leisegang auch weiter, als er bei „Nathalie“ in Textschwierigkeiten kommt. Einmal in Fahrt wollen die Musiker nicht mehr von der Bühne und die Fans nicht aus dem Saal. Tosender Applaus verschiebt den Feierabend für die Keimzeit-Musiker nach hinten. „Soweit die Nachtvorstellung der Verrückten, das Irrespätprogramm“, schließt Keimzeit das Konzert nach über zwei Stunden im wunderbaren „Flugzeug ohne Räder“. Christoph Henkel
Christoph Henkel
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