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Kultur: Geräuschcollage trifft auf Klangmalerei

Noch nie Gehörtes und Weltbekanntes beim Sinfoniekonzert der Kammerakademie Potsdam

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Im ICD-10-Diagnosenthesaurus für Ärzte ist unter dem Zahlenschlüssel F 43.2 das Krankheitsbild des „Culture shock“ verzeichnet. Selbigen Kulturschock mögen viele Zuhörer am Karsamstag im Nikolaisaal erlitten haben. Wie anders ist sonst zu erklären, dass sie fluchtartig den Raum verließen, nachdem ihnen mit der neutönerischen Novität „Les microbes de dieu“ (Die Mikroben Gottes), uraufgeführt im Rahmen des 8. Sinfoniekonzerts mit der Kammerakademie Potsdam, gewaltige und gewalttätige „Schläge“ auf''s Ohr verpasst wurden. Nicht jeder vertrug es und rebelliert auf seine Weise. Einige reagieren belustigt auf die tsunamiähnlichen Geräuschfluten, andere kommentieren das Klangchaos mit „Das gibt''s doch nicht“.

Ihnen liefert der Klangwirrwarr nur noch mehr Vorbehalte gegenüber zeitgenössischer Musik anstatt sie abbauen zu helfen. Die Kenner der Materie urteilen dagegen: „Musik wie für einen Krimi oder Psychothriller, find'' ich gut“.

Unterdessen obwaltet der italienische Komponist Gabriele Manca (geb. 1957) unverdrossen seines dirigentischen Amtes, indem er das Gewusel, das sich zunehmend als bloße Geräuschcollage entpuppt, zu immer neuen Eruptionen führt. Ein Streicherunisono, ständig wiederholt, wirkt wie Peitschenhiebe. Amboss-Schläge heizen zusätzlich ein. Für floskelhafte „Randbemerkungen“ sorgen Bläserstimmen. Man versucht miteinander zu kommunizieren, was misslingt. Sind hier Autisten am Werk? Ganz nach Absicht des Komponisten, der zuvor in einem mühsam dahinplätschernden und weitgehend nichtssagenden Gespräch mit Kammerakademie-Geschäftsführerin Frauke Roth mitteilte: „Ich hatte Lust, ein Monster zu konstruieren - mit zwei Köpfen“. Die instrumentalisieren sich als Blockflöten vom Piccolo bis zur Subbassausführung (Antonio Politano) und Fagott (Sergio Azzolini), werden mit den ungewöhnlichsten Blastechniken und Lautstärken vorgeführt. Keine leichte Aufgabe für die Solisten, aber von beiden lustvoll und klangbravourös eingelöst. Dennoch gehen ihre Bemühungen größtenteils im Klanggetöse unter. Dann, im zweiten Teil des viergliedrigen Stücks, hebt zwischen Tenorblockflöte und Fagott ein stöhnender Dialog an, der einem Orgasmus gleicht. Ihm folgt sogleich ein zweiter. Die Ermattungen danach, man könnte sie als herkömmliches Adagio deuten, werden klangschmatzend hörbar. Dann wieder glaubt man sich mit heulenden Wölfen zu nächtlicher Stunde im Abruzzenwald wieder zu finden. Witzig und knapp zeigt sich das Finale, in dem die stehende, übermannshohe Subbassblockflöte gleich einem Phallussymbol körperexzessiv von Antonio Politano geblasen wird. Der Beifall der Dagebliebenen beweist: das Werk ist trotz aller Hörstrapazen angenommen.

Ein ungewöhnliches Osterei made in Italy, das man sich da entdeckte. Doch bedeutet Ostern, aus heidnischer wie christlicher Sicht, nicht auch ein Aufbruch zu Neuem?! Dem aufregenden Abenteuer folgt nach der Pause die Bekanntschaft mit Wohlvertrautem, Antonio Vivaldis vierteiligem Violinkonzertzyklus der „Vier Jahreszeiten“ op. 8. „Der Frühling ist gekommen, und freudig begrüßen ihn die Vögel mit heiterem Gesang“, heißt es im dazu passenden Vivaldi-Sonett. Die Solistin Muriel Cantoreggi wetteifert im einleitenden „La Primavera“-Allegro mit den Konzertmeisterinnen Yuki Kasai und Christiane Plath um die (Vogelgezwitscher-)Wette. Das Orchester beteiligt sich an den tonmalerischen Vorzüglichkeiten mit kräftigem Knospenknall. Auch sonst geht es mit operntheatralischer Verve zu Werke, wenn u.a. von Frosteinbrüchen, sommerlicher Sonnenglut, Gewitter, herbstlichem Kirmestreiben oder einer Schlittenfahrt erzählt wird. Die Musiker lieben dabei die straff artikulierte Attitüde genauso wie die dynamischen Extreme. Der überzeugende Redetonfall der Solistin trifft auf die nicht minder vorzügliche Rhetorik der putzmunter aufspielenden Kammerakademie. Da waren die Ohren wieder ganz versöhnt. Der Beifall bewies es nachdrücklich. Peter Buske

Peter Buske

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