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Kultur: Gewagte Gratwanderung

Singakademie Potsdam stellte sich im Nikolaisaal der „Matthäus-Passion“ von Bach

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Singakademie Potsdam stellte sich im Nikolaisaal der „Matthäus-Passion“ von Bach Von Peter Buske Sind die Sinne für die Aufnahme von Johann Sebastians Bachs Passionen besonders geschärft, seit Mel Gibsons Filmspektakel „The Passion“ weltweit für Contra und Pro sorgt? Badet der eine in einer fotografierten Orgie von Blut und Gewalt, langen dem anderen in seiner „Matthäus-Passion“ BWV 244 nur vier abwärts sinkende Töne, um den Tod zu schildern: „...und verschied“. Minimalistischer geht es kaum. Ergreifender und direkter wohl auch nicht. Diese „Passio Domini nostri J.C. secundum Evangelistam Matthaeum“, wie der Titel des Karfreitag 1729 in der Thomaskirche zu Leipzig uraufgeführten Werkes lautet, ist nicht nur die umfangreichste aller Passionsvertonungen des Thomaskantors, sondern gilt auch als eine Gipfelleistung abendländischer Kultur – nur vergleichbar Beethovens Neunter und dem Goetheschen „Faust“. Um den Gehalt dieses imaginierten Dramas, das durch zahlreiche Betrachtungen (der Solisten und des Chores) unterbrochen wird, adäquat ausdrücken zu können, verlangt es den Interpreten ein Höchstmaß an spiritueller Hingabe ab. Die Aufführung im leider nur mäßig besetzten Nikolaisaal sucht diesen Anforderungen zu entsprechen. Unter Leitung ihres Dirigenten Edgar Hykel unternimmt die Potsdamer Singakademie, unterstützt von den Brandenburger Symphonikern und einem jungen Solistenensemble, die Sinnsuche zwischen geistlicher Oper und vertonter Predigt. Sackgasse Doch so recht mag sich der spiritus rector nicht entscheiden. Bei seiner gewagten Gratwanderung bevorzugt er eher eine kontemplative Richtung, die schnell in die Sackgasse der Spannungslosigkeit mündet. Beispiel dafür: die belanglos wirkende Verhörszene Jesu. Sollte das etwa gestisches Vorzeigen sein? Für seine objektivierende Deutung wählt der Dirigent einerseits ziemlich zügige Tempi (die Arien „Blute nur, du liebes Herz“ und „Ich will dir mein Herze schenken“ – beide vom Sopran angestimmt – sowie das Alt-Bekenntnis „Buß'' und Reu''“ kommen erstaunlich flott daher), andererseits bleiben Gefühlswärme und Anteilnahme am vorgetragenen Geschehen merklich blässlich. Über die dreistündige Aufführung hin verstärkt sich der Eindruck, dass die Passion von den Musikern und Sängern innerlich nur wenig durchlebt und durchlitten wird. Die Brandenburger Symphoniker befleißigen sich einer Mischung aus Ahnungen von historisierender Spielweise (vibratoarm, redende Phrasierung) und romantischer Gefühlsausbreitung. Schön hört sich''s an. Die Rezitative werden von Truhenorgel und Violoncello begleitet, die speziellen des Jesus von einer kleinen und wohlfeil tönenden Geigengruppe. Instrumentalsolisten (Gambe, Block- und Querflöte, Violine, Oboe, Fagott) umspielen die Arien voller Anmut. Plastische Gestaltung Die doppelchörige Anlage des Werkes findet durch die deutliche Trennung von Chor und Orchester ihren sichtbaren Ausdruck. Es fällt auf, dass der Chorus II wesentlich kleiner besetzt ist als sein „Gegentöner“, was er jedoch durch klangschöne und geschmeidige Klasse wettmacht. Dem ebenfalls sauber intonierenden Chorus I fallen die zahlreicheren und anspruchsvolleren Aufgaben bis hin zu den packenden Turbae-Chören zu. Man entledigt sich ihrer (wie „Sind Blitze, sind Donner...“) mit plastischer Gestaltungskraft und prägnantem Ausdruck. In den gemeinsam angestimmten Chorälen breitet sich schlichtes Gefühl beweglich und bewegend aus, wie in dem selbstbewusst klingenden „O Haupt voll Blut und Wunden“. Im ariosen, breit und behäbig ausmusizierten, wenig trauervoll wirkenden Eingangschor „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ tönt der Kinderchor (Einstudierung: Marianna Glusberg) von der Empore. Er ist kaum zu vernehmen. Textverständlichkeit ist eine Zier, die auch nicht alle Solisten beherrschen. Dirk Kleinke (Tenor) als Erzähler und Ariensänger schon. In den Rezitativen tönt seine hell timbrierte Stimme leicht und klar, bewegt sich mühelos in den erforderlichen Höhenbereichen. Im zweiten Teil dagegen verweigert sie sich den auszudrückenden Erregungszuständen, werden tonaler Sitz und Zielrichtung ungenau. Gestalterische und dynamische Differenzierungen sind seine Sache nicht. Die Arie „Ich will bei meinem Jesum wachen“ trägt er als schlichtes Wiegenlied vor, die Aufforderung zu „Geduld, Geduld, wenn mich falsche Zungen stechen“ mit pastoralem Empfinden. Klar und kraftvoll, jegliches Salbadern oder Lamentieren meidend, trägt Timothy Sharp (Bariton) den Jesus-Part vor. Sein rationaler Vortragsstil lässt ihm und den Zuhörern eine innere Anteilnahme nicht zu. Dagegen gestaltet Gillian Crichton (Alt) ihren Anteil am Gesamtgeschehen sehr glaubhaft und berührend. Ihr schlichtes, teilweise fröhliches und freundliches Singen kennt kein tränenreiches Versinken in Seelentiefen. Diese überlegte und überlegene stimmliche Gestaltung hätte man auch Irene Lepetit (Sopran) gewünscht. Ihrem rational geprägten Gesang fehlt es an empfindungsreichem Gefühl und Wärme. Den hält Georg Witt (Bass) dagegen so überreich bereit, dass man den Lyriker, der seine Arien verhalten und wie beiläufig vorträgt, gleichsam als Legatolangweiler bezeichnen könnte. Den Inhalten des Gesungenen wird er nicht gerecht. Als „Opern“-Charge (Judas, Petrus, Pilatus) ist er nur unwesentlich besser. Nachdem „der Herr zur Ruhe gebracht“ ist, folgt der chorische Abgesang „Wir setzen uns mit Tränen nieder“. Sehr erfreulich, dass dabei keinesfalls auf die entsprechenden Augendrüsen gedrückt wird, sondern der Grabgesang fast fröhlich seine tröstliche und hoffnungsfrohe Botschaft verkünden kann. Auch dafür gibt es anhaltenden Beifall.

Peter Buske

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