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Kultur: Gipfelbesteigung mit entsprechenden Anstrengungen

In diesem Jahr will der Oratorienchor Potsdam Regers „100. Psalm“ aufführen, Chorleiter Matthias Jacob sucht dafür noch Sängerinnen und Sänger

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Mit „wahrer Todesverachtung und Selbstverleugnung“ soll der Chor für die Uraufführung geprobt haben. Und der Komponist selbst gab genaue Anweisungen, wie sein Werk aufzuführen sei. „Bitte, mache Du 100000000000000000 (17 Nullen! Der Herausgeber) Proben! Der Psalm muss glänzend gehen, so dass Alles einfach ,umgeschmissen’ wird! (...) Die Hörer des Psalms müssen nachher als ,Relief’ an der Wand kleben“, schrieb Franz Reger an den Dirigenten Fritz Stein.

Ein feines, kaum merkliches Lächeln umspielt den Mund von Matthias Jacob, als er aus dem Reger-Brief zitiert. Die Stelle mit den Hörern, die gleich einem Relief an der Wand kleben sollen, bereitet ihm großes Vergnügen. Und trocken fügt er hinzu, dass die Wände in der Friedenskirche hoch genug seien. Sprich: Also genug Platz für eine solch überwältigende Wirkung vorhanden ist.

Zumindest ansatzweise sind die Anweisungen, die der Komponist und Organist Max Reger 1909 an den Dirigenten Fritz Stein schrieb, eine Art Richtschnur für Matthias Jacobs Arbeit mit dem „100. Psalm“ op.106 für gemischten Chor, Orchester und Orgel. Seit vier Wochen probt Matthias Jacob, seit 1981 Kirchenmusiker an der Friedenskirche und Leiter des Oratorienchors Potsdam, mit deren Mitgliedern für die geplanten Aufführungen im November. Einmal im Rahmen der Vocalise am 17. November in Potsdam und einmal am 25. November in Cottbus soll der „100. Psalm“ zu erleben sein. Doch um nur annähernd die von Reger gewünschte Wirkung auf die Zuhörer zu erreichen, fehlt Matthias Jacob etwas Entscheidendes: Eine entsprechende Anzahl von Sängerinnen und Sänger. „In erster Linie Sopran und Männerstimmen“, konkretisiert Jacob sogleich.

Zwischen 100 und 110 Chormitgliedern proben derzeit unter ihrem Leiter Matthias Jacob einmal pro Woche den „100. Psalm“, der mit den Worten „Jauchzet dem Herrn, alle Welt!“ beginnt. Doch zu Zeiten Regers konnte es vorkommen, dass ein Chor bis zu 500 Sänger und Sängerinnen hatte. Eine stimmliche Kraft, die sich mit einem entsprechenden Orchester und der Orgel messen konnte. Doch diese vokale und instrumentale Überwältigungsmacht, die Max Reger hier anstrebte, war schon damals nicht jedermanns Sache. So schrieb der Dirigent Siegfried Ochs nach seiner Berliner Aufführung im Jahr 1910, dass zwar Reger sehr glücklich über die erzielte Wirkung von 16 Bläsern beim „Eine feste Burg“-Zitat war, Ochs selbst und auch die meisten Zuhörer aber wohl „unter dem Eindruck standen, dass diese Posaunen von Jericho das Ganze in Grund und Boden geblasen hatten“.

Dass der Oratorienchor nun durch diesen Aufruf auch nur annähernd an die Größe von 500 heranreichen wird, daran glaubt Matthias Jacob nicht. Aber wenn zur Aufführung im November zwischen 150 und 200 Sängerinnen und Sänger auf der Bühne stehen, wäre er glücklich. Auf die Frage, welche Voraussetzungen Interessierte mitbringen sollten, ob sie schon Erfahrungen im Chorgesang haben oder Noten lesen müssen, schüttelt er nur den Kopf. „Das Wichtigste ist, sie sollten so schnell wie möglich zu uns kommen und wenn sie am Anfang auch nur zuschauen oder zuhören möchten.“ Das heißt in diesem Fall in den restaurierten Friedenssaal in der Schopenhauerstraße, wo der Oratorienchor jeden Montag ab 19.15 Uhr probt. Und Eile ist geboten, weil die Arbeit an dem „100. Psalm“ irgendwann soweit fortgeschritten sein wird, dass neue Sängerinnen und Sänger keine Chance mehr haben, diesen Rückstand aufzuholen. Vor allem, wenn sie in ihrer Freizeit singen und sich dann auch noch mit einem solchem Werk wie dieser orchesterbegleiteten Chorkomposition beschäftigen müssen.

Reger bezeichnete dieses Werk als „hanebüchen schwer“, Matthias Jacob geht sogar noch einen Schritt weiter. Er nennt den „100. Psalm“ das Schwierigste überhaupt. Und warum setzt er sich und seine Chormitglieder ausgerechnet diesem Werk aus?

Da ist zu einem Jacobs Begeisterung und Verehrung von Regers Schaffen, der in den 1920er Jahren viel gespielt wurde, heute aber immer stärker dem Vergessen anheim fällt. Zum anderen ist da der Anspruch des Oratorienchors, sich alle zwei bis drei Jahre einer neuen Herausforderung zu stellen. Im Jahr 2004 war dies das „War Requiem“ von Benjamin Britten, 2007 „Golgotha“ von Frank Martin und im vergangenen Jahr das Requiem von Gabriel Faure. Doch Max Regers „100. Psalm“ ist dann doch noch eine andere Kategorie.

Reger, der Schönberg näher ist als Beethoven, obwohl „katholisch bis in die Fingerspitzen“ zeitlebens von der protestantischen Choraltradition fasziniert war und Johann Sebastian Bach zutiefst verehrte, fordert mit „100. Psalm“ nicht nur den Chor, sondern auch das Publikum. Motive prägen dieses Werk, die aber keineswegs eine Melodie ergeben. Ein Werk, das sich nicht gefällig, sondern herausfordernd gibt. „Eine Gipfelbesteigung mit entsprechenden Anstrengungen“, sagt Matthias Jacob in seiner trockenen Art. Aber eine Herausforderung, die zu einem Erlebnis werden kann. In diesem Fall sogar mittendrin.

Der Oratorienchor Potsdam trifft sich am kommenden Samstag, dem 11. Februar, von 10 bis 19 Uhr, und jeden Montag ab 19.15 Uhr im Friedenssaal in der Schopenhauerstraße 23. Interessierte können einfach vorbeikommen oder sich an Matthias Jacob wenden unter Tel.: (0331) 90 11 67 oder (0331) 951 24 69

Dirk Becker

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