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Mit Inbrunst. Norbert Leisegang ist nicht nur tiefenentspannt. Er kann auch schmachten.

© Oliver Dietrich

Keimzeit-Konzert: Glücklichtraurigmanischdepressiv

Keimzeit zeigten in der Reithalle keine Anzeichen von Altersmüdigkeit - sondern mit Violinistin Gabriele Kienast sogar ein wenig Erotik. Eine romantische Grundstimmung konnten da selbst kühl-beobachtende Nachtschwärmer nicht aussperren.

Stand:

30 Jahre Keimzeit – und ein Akustik-Quintett, das in seinem Altersdurchschnitt gerade mal die Dreißiger erreicht. Keimzeit traten am vergangenen Samstag in der Reithalle erheblich verjüngt auf, lediglich Sänger Norbert Leisegang sah man sein Alter dann doch etwas an, obwohl er von seiner stimmlichen Intensität kein noch so kleines Stück verloren hat. Ja, Leisegang ist das unbestrittene Zentrum der Band, sowohl Aushängeschild als auch Alleinstellungsmerkmal. Und diese angenehme Mischung aus rauer, charakteristischer Stimme und intelligenter lyrischer Doppelbödigkeit ist der Trumpf der Band, deren Vielfalt durch ein melancholisches Dur-Moll-Schach mehr als nur betont wird.

Letztes Jahr hatte sich Keimzeit einen Ausflug ins norwegische Ålesund gegönnt, um als Akustik-Quintett ein Album aufzunehmen, inspiriert von der norwegischen magischen Tristesse, die nur dieses Land bieten kann. Das märchenhaft Schöne dieser Landschaft dient hervorragend als Inspiration für die bisweilen tragische Musik von Keimzeit, daran hat niemals auch nur irgendein Zweifel bestanden. Und das Märchenhafte wurde an diesem Abend eben auch nicht nur erwartet, sondern gleichsam erfüllt.

Das war einhundert Prozent Keimzeit, die gern auch mal einen internationalen Rundumschlag präsentierten – und da muss ein in Leisegangscher Inbrünstigkeit vorgetragenes „Je ne veux pas travailler“ zu einem Teil schmachtender Romantik werden, einer tiefenentspannten, zu einem breiten Grinsen provozierenden Heiterkeit. Und diese Frankophilie war ein allzu passender Stempel für die Band, das kam später erst recht zur Geltung, als das Charles-Trénet-Chanson „La mer“ mit einer Intensität gebracht wurde, die geradezu rührend war: Da war sie, die versprochene Filmmusik, entlehnt aus dem Agententhriller „Dame, König, As, Spion“. Wobei Keimzeit in einem Agententhriller wohl eher unpassend verloren dastehen würden.

Und doch ist Keimzeit eben Keimzeit, was man am doch eher hohen, für die Reihe „nachtboulevard“ untypischen Altersdurchschnitt des Potsdamer Publikums am Samstag deutlich bemerkte. Das fiel nicht weiter ins Gewicht, auch wenn das Im-Takt-Klatschen zuweilen eine recht drollige Schlagerstimmung erzeugte. Aber sei’s drum, Keimzeit ficht das nicht an, und erst recht nicht den diplomierten Mathe-Physik-Lehrer Norbert Leisegang, der alles mit seinem schelmischen, fast kinskihaft-selbstgefälligen Grinsen quittierte.

Aber trotzdem konnte selbst Leisegang die Show streitig gemacht werden: Violinistin Gabriele Kienast bestach nicht nur durch ihre Virtuosität, sondern glühte fast in ihrer bestiefelten Erotik, die die anwesenden Männer in der Pause sich heftiger an ihr Bier klammern ließ. Diese Frischzellenkur tat Keimzeit wirklich gut, und die Violinistin Kienast schaffte es sogar, die Aufmerksamkeit von der oftmals gähnend langweiligen Hintergrundprojektion abzulenken. Ein klarer Fall von Aufmerksamkeitsmagnetismus.

Und so eindeutig glücklichtraurigmanischdepressiv war der Gesichtsausdruck der Anwesenden, sobald man sich umdrehte und die Perspektive der Band einnahm. Das war eben nicht unbedingt das Konzert für solitäre Nachtschwärmer, die kühl-beobachtend ein wenig Samstagsabendmusik aufsaugen wollten. Besser dran waren immerhin die Menschen, die vorsorglich in Begleitung erschienen waren – die tiefschürfende Angenehmheit bestrafte all diejenigen, die allein gekommen waren. Bei so viel lyrischer Benommenheit lässt sich eine gewisse romantische Grundstimmung eben nicht aussperren, und Keimzeit wissen das hervorragend auszunutzen. „Lass dich nicht mit deinen Tränen von der Sonne erwischen“, sang Leisegang und meinte damit bestimmt nicht die bitterkalte Januarnacht, die dem Konzert die gebührende Notwendigkeit verlieh. Und doch gibt es kein Keimzeit-Konzert ohne deren Klassiker, die sich die Band gut kalkuliert für den Schluss aufhob: „Oh, Maggie“, hauchte Leisegang ins Mikrofon, und ließ sich die halbe Tüte Erdnuss-Chips – Kling-Klang – dann auch nicht wieder nehmen.

Oliver Dietrich

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