zum Hauptinhalt

Kultur: Gnadenlose Erinnerung

Kein Entfliehen bei Wilde und Vogels „Lear“

Stand:

Am Ende nur dieser Blick. Keine Trauer, keine Verzweiflung, keine Wut, nur Leere ist darin. Und unheilvolle Erwartung. Denn niemand kann den eigenen Erinnerungen entfliehen.

Mit „König Lear“ hat sich das Leipziger Figurentheater Wilde und Vogel nach „Hamlet“ und „Ein Sommernachtstraum“ in ihrem neuesten Stück wieder Shakespeare vorgenommen. Anfang Oktober hatte „Lear“ in Leipzig Premiere, am Samstag waren Wilde und Vogel im Rahmen von Unidram im T-Werk zu Gast. Die Plätze im Saal reichten nicht aus, vor der Bühne und auf den Treppen saßen die Gäste – Wilde und Vogel sind schon lange keine Geheimtipp mehr. Und mit „Lear“ haben sie wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt, wie aufwühlend, verwirrend und überwältigend Theater sein kann.

Die Geschichte von Lear also, dem alten König, der plant, sein Reich unter seinen drei Töchtern aufzuteilen und von ihnen hören will, wie groß die Liebe zum Vater ist. Die ehrliche Antwort seiner jüngsten und Lieblingstochter Cordelia erkennt er nicht. Lear verstößt und verflucht sie. Am Ende, nach dem Lear alles verloren hat – sein Reich, seine Töchter, die tot sind – erkennt er. Doch ändern kann er nichts mehr. Was bleibt sind Erinnerung, Wahnsinn und die Hoffnung auf den Tod.

Charlotte Wilde und Michael Vogel, zusammen mit Regisseur Hendrik Mannes, setzen ihren Lear der Erinnerung aus. Alles ist längst geschehen. Was Lear geblieben ist, sind seine Erinnerungen und sein Narr, eine bewusste Parallele zu Becketts „Endspiel“. So sitzt Lear auf einem abgewrackten Stuhl auf fast leerer Bühne, schmückt sich mit glanzloser Krone und setzt sich den Gespenstern seiner Vergangenheit aus. Frank Schneider spielt den Lear als einen resignierten, alten Mann, der sich dem Schicksal ergeben hat und von Selbstmitleid und an ihm nagenden Wahnsinn wie leer und ausgehöhlt wirkt. Michael Vogel als Narr und Puppenspieler ist die Entdeckung des Abends. Dieser Kerl als Narr ist eine Zumutung. Er umkreist seinen Lear und ist zur Wahrheit verpflichtet. Doch wenn er spricht, spuckt und speit er die Worte mit größtem Widerwillen. Wie besessen tobt er über die Bühne, verspottet, umgarnt, bemitleidet dabei seinen König und fast scheint es, als hinge sein Leben nur an einem der dünnen Fäden, von denen die zahlreichen Puppen bewegt werden. Diese Puppen, diese Gespenster der Vergangenheit, totenbleich und schaurig schön, plagen Lear in seiner Erinnerung. Und wie jede Erinnerung wird hier in knapp 70 Minuten nur fragmentarisch erzählt. Charlotte Vogel und Johannes Frisch liefern an zahlreichen Instrumenten mehr als nur die Begleitmusik. So rückt „Lear“ in seinen intensivsten Momenten dem Zuschauer ganz dicht auf den Leib, kriecht der Wahnsinn einem fast schon ins Ohr.

Am Ende sitzt Lear auf seinem Stuhl und starrt mit leerem Blick ins Dunkel, in das auch langsam der ganze Saal fällt. Es ist dieser Blick im verhärmten Gesicht des alten Königs, bei dem sich einem langsam die Nackenhaaren aufstellen. Denn auch wenn mit dem Dunkel das Stück sein Ende findet, bleiben doch die Erinnerungen, denen keiner entfliehen kann.

Dirk Becker

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })