
© Andreas Klaer
Von Daniel Flügel: Grandiose Wolkenschieber
Montag ist Lutz Seilers Erzählband „Zeitwaage“ erschienen / Buchpremiere in Potsdam
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„Zwei, drei Atemzüge, und obwohl ich vorbereitet bin, überfällt es mich: Der maschinenhafte Ton, klar und stark, als schlüge etwas gegen die Verstrebungen der Zeit, im Grunde kein Ticken und doch das Echo der Uhr, für die ich Sorge trage.“
Hörbar. Spürbar. Geheimnisvoll. Den Dingen in Lutz Seilers neuen Erzählungen, wie in der titelgebenden „Die Zeitwaage“, sind Geschichten eingeschrieben, die die Besitzer einer Stabtaschenlampe, eines Abstandsmessers oder einer Armbanduhr wie Gralshüter mit einer anziehenden und beeindruckenden Erzählstimme schildern.
Man hat sich ein Weilchen gedulden müssen, ehe der in Wilhelmshorst bei Potsdam lebende Schriftsteller Lutz Seiler endlich sein neues Buch „Die Zeitwaage“ veröffentlicht hat. Am kommenden Dienstag stellt Seiler sein am Montag erschienenes Buch in der Villa Quandt vor. Dreizehn zum Teil über mehrere Kapitel reichende sowie kürzere Erzählungen umfasst „Die Zeitwaage“. Darunter auch „Turksib“, jenes bezaubernde Prosastück, für das Seiler vor gut zwei Jahren mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde. Herausragend – und doch ein Lesegenuss unter vielen.
Es sind durchweg sehr intensive und sprachstarke Texte, gute Geschichten, deren Protagonisten allesamt Tagträumer sind. Grandiose Wolkenschieber, die dank einer fantasiegeladenen Innenwelt die allzeit gezielt und fassbar beschriebene äußere Wirklichkeit, und sei es nur momentweise, rein spielerisch oder aus Verzweiflung zu unterwandern wissen. So als gäbe es dadurch Trost und die Möglichkeit eines plötzlichen Auswegs.
„Ab und zu tönte ein einzelner Ruf aus dem Stimmengewirr, klar umrissen, ein Schrei wie aus den Freibädern der Kindheit, der die Welt für eine Zehntelsekunde in Bernstein goss und den Blick freigab in einen kühlen Raum voller Abwesenheit, in den einzutreten Färber sich augenblicklich sehnte: weggehen, von allem.“ Doch scheinbar in seinen Traumbildern verstrickt, steht Färber „Im Geräusch“ buchstäblich sprachlos der unausweichlichen Trennung von Frau und Kind gegenüber. Ähnlich neben sich steht auch Bendler in „Und jetzt erschießen wir dich, du alter Mann“, als er sich von seinen Wahrnehmungen täuschen und zu einem unerwarteten Blackout hinreißen lässt.
Hingegen eher suchende Träumer und Fährtenleser sind die Ich-Erzähler in den oftmals sehr autobiografisch durchwirkten Texten wie „Der Kapuzenkuss“, „Schachtrilogie“, „Der Stotterer“ oder auch „Die Zeitwaage“. Hier werden eigene Spuren zurückverfolgt und dabei Entdeckungsreisen erzählt, die bis in die Kindheit reichen, wo die ersten eindringlichen Erinnerungsbilder einer Prägung und Ausdrucksfindung entstehen. Dabei die DDR als unumgängliche Kulisse und Ort der Trostlosigkeit, klar und ehrlich mit einem „Hauch von Verwesung und Kanalgestank“. Dort läuft das Vergangene noch einmal ab, werden die Situationen und Szenen anschaulich durchgespielt, wobei sich die Erzähler glänzend in ihre Rollen hineinsteigern, um zu zeigen, ja auszumalen, wie bedeutend die wiederholten Verstöße gegen die Hausordnung der Schule gewesen sind, lag darin doch auch eine „klar benennbare Schuld, die sinnvoll zu unserem Leben beitrug, weil sie uns Konturen verlieh im grau dahinströmenden Magma dieser Zeit“, wie es in „Der Kapuzenkuss“ heißt. In „Schachtrilogie“ markiert eine letzte, jedoch erstmals gewonnene Schachpartie gegen den Vater das Ende der Kindheit. Doch das Spiel wird zum Geheimnis, aus dem sich später die Lüge schält, gar nicht spielen zu können, wodurch ausgerechnet das Herz einer Schachmeisterin gewonnen wird.
Auch in seinem neuen Erzählband zeigt Seiler eindrucksvoll einen sauberen und formgewandten Umgang mit der Sprache. Beinah gelassen und doch stets treffsicher und ausdrucksstark gelangt er in die Innenräume der Akteure und an die vielen Orte einer reinen, niemals überladenen Erzählwelt. Bezaubernde, raffinierte, bisweilen überaus sinnreiche und rätselhafte Konstruktionen kann man darin finden. Meist sind es weniger spektakuläre Geschehen denn nachhaltige, einschneidende Begebenheiten, die Seiler beschreibt. Alltagsgeschichten, in denen kleine Katastrophen und leise Verzweiflungen aber auch plötzliche Erweckungserlebnisse lauern. Mit einer faszinierenden Leichtigkeit versteht es Seiler, den Leser tief in die Traumwelten und Erinnerungen seiner Helden hineinzuziehen. Wobei nie Befremdlichkeit aufkommen will, selbst wenn diese Erzählungen ins Wundersame, Fantastische oder Groteske münden. Und mit Blick auf den 2004 erschienenen Essayband „Sonntags dachte ich an Gott“ lässt sich nochmals das sehr persönliche Gewicht auf „Die Zeitwaage“ ablesen: schlagend, offen und echt, und manchmal mit einem überraschend humoristischen Unterton belebt.
Die Buchpremiere mit Lutz Seiler am kommenden Dienstag, 29. September, 20 Uhr, in der Villa Quandt, Große Weinmeisterstraße 46/47. Der Eintritt kostet 7, ermäßigt 5 Euro. Kartenreservierung unter Tel.: (0331) 280 04 52 oder (0331) 280 41 03
Lutz Seiler: Die Zeitwaage, Erzählungen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009, Gebunden, 287 Seiten, 22,80 €
Daniel Flügel
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