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Kultur: Griff in den Schritt der Geschichte Heiner Müller-Collage im T-Werk

Die Bühne ist ein Gang, hinten ein Eingang, vorne ein Ausgang. Das Publikum sitzt auf voller Länge etwas erhöht zu beiden Seiten.

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Die Bühne ist ein Gang, hinten ein Eingang, vorne ein Ausgang. Das Publikum sitzt auf voller Länge etwas erhöht zu beiden Seiten. Ein Gang, vielleicht auch ein Fluss. Ein Gedankenfluss, ein Traumfluss, in den die fünf Schauspieler des freien Berliner Theaters R.A.T. zum Gedenken an den zehnten Todestag von Heiner Müller Textstücke des großen Theatermannes hineinwerfen.

Die Szenen aus vier Müller-Stücken schwimmen vorbei, immer mal wieder. Müllers Text „Landschaft mit Argonauten“, die Reise eines ICHs, dient als Uferbefestigung, als Richtungssetzung. „Ich“ und „Ich“ und „Ich“ hallt es zunächst durch das dschungelgrüne Licht und durch eine Musik wie aus einer Geisterbahn, die Schauspieler sprechen im Chor und fragen immer wieder „Wer?“, die Antwort lautet immerzu nur „Ich“. Das großgeschriebene ICH, nach Müller „die Traumhölle, die einen Zufallsnamen trägt“. Der Einzelne ist in eine hässliche Gegenwart geworfen, und konzentriert sich auf Selbstbesinnung. Kein ICH ohne Geschichte. Daher die vorbeiziehenden Text-Flöße. Wie Friedrich-Wilhelm seinen Sohn demütigt und den späteren Akademiepräsidenten Jakob Gundling verlacht, aus dem Text „Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei“. Macht und Wissenschaft, dargestellt in Müller“scher Drastik. Gundling bekommt Bier über den Kopf gegossen. In genau dieser Lache wird ein Jamaikanischer Sklave wimmern, dem vier Revolutionäre aus Frankreich die Freiheit schenken wollen (aus „Der Auftrag“). Es kommt anders. Mit Müllers Worten: „Der Tod ist die Maske der Revolution.“

Die inszenierte Textcollage „Wie soll ich atmen in dem Hemd aus Stein“ unter Regie von Dirk Steinmann macht es dem Zuschauer nicht leicht. Man wolle Müllers überragenden Sprachrhythmus vorführen, der zuweilen wie Jazz sei. Mit „Bedeutungsschwere“, heißt es im Programm, habe das Stück weniger zu tun. Worte wie „Im Regen aus Vogelkot aus Kalkfell“ oder „Fickzellen mit Fernwärme, Eingeborene des Betons“ – gemeint die Plattenbauten und ihre Bewohner – haben einen existentialistischen, sprachrevolutionären Klang. Auf jeden Fall antibürgerlich, was ab und zu auch gut tun kann.

Wo bleibt das Verstehen? Kann man Verstehen? Heiner Müller misstraute den kausalen Zusammenhängen, er wolle eine Erzählstruktur schaffen, die derer seiner Träume glich. Kontraste und Beschleunigung erzeugen.

Die Collage nun, mit dem präzis zurückhaltendem Bühnenbild von Jessica Braun, gaukelt mit der fließenden Szenenabfolge eine sequentielle, kausale Verknüpfung vor, in Wirklichkeit handelt es sich um einen „Stream of Consciousness“ einen Bewusstseinstrom, in dem das historisierte Individuum unbehände paddelt wie eine Kaulquappe. Krieg, Verrat und Quälerei. Das Arsenal des 20. und 21. Jahrhunderts. Ein Wahnsinn.

Einige Szenen sind großartig: wie Robespierre im Rollstuhl dem auf Krücken fortstrebenden König „Syphilitiker“ schmäht. Wie Gundling mit Hasenohren immer wieder über die Bühne springt und ruft: „Der Mensch ist ein Zufall, eine Wucherung, so etwas wie Masern“. Da lachte es sogar auf unter den 70 Premierengästen. Oder wie die alte Liebe, eine Sklavenbesitzerin, sich an Debuisson, dem Verräter der revolutionären Ideale mit Lippenstift und gezogenem Gürtel rächt. Nicht aus Gerechtigkeitsgefühl, sondern aus verletztem Stolz.

Das in wechselnden Rollen spielende Ensemble mit Elisabeth Milarch, Sylvie Rühl, Oliver Schindler, Jörg Tewes und Chris Urwyler greift dem Publikum mit dieser Aufführung nach Art ihres verstorbenen Vorbilds unangenehm in den Schritt. Es wird mit seinem Schmerz ziemlich allein gelassen. Ein Weg, Theater als politisch und gleichzeitig für sich relevant zu entdecken. Ein angemessener Weg, Heiner Müller zu gedenken.

Matthias Hassenpflug

Weitere Aufführungen: 16., 17. sowie 21. bis 24. 9., T-Werk, Karten Tel. 71 91 39.

Matthias Hassenpflug

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