Kultur: Grimms Graue Panther
Tiefer Einblick in die „Bremer Stadtmusikanten“ von Alice Dassel
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Tiefer Einblick in die „Bremer Stadtmusikanten“ von Alice Dassel Kinder brauchen Märchen, Erwachsene nicht minder. Eine ganze Industrie lebt davon, Geschichten mit versöhnlichem Ausgang zu erfinden, Hoffnungen zu wecken, Illusionen zu schaffen, ohne sie am Ende platzen zu lassen. Das funktioniert nicht erst seit Grimms Märchen. Tröstlich, dass Mutter Geiß ihre Kinder aus dem Bauch des bösen Wolf befreit, Dornröschen wachgeküsst wird und die Bremer Stadtmusikanten im Haus der verjagten Räuber ein neues Domizil finden Die Lehrerin und Germanistin Alice Dassel hat für ihre im R.G. Fischer Verlag erschienene Märcheninterpretation die „Bremer Stadtmusikanten“ einmal genauer gelesen und versucht, den einzelnen Figuren und ihren Beziehungen auf den Grund zu gehen. Sie analysiert das ausrangierte Tierquartett, das nach Bremen zieht, um sich als Musikerensemble zu verdingen, nach sozialpsychologischem Muster und untersucht die Motivationsstruktur der handelnden „Personen“. Da erweist sich der ganz und gar nicht dumme Esel als tragfähige Basis der späteren Tier-Pyramide, als Ideenträger und Vordenker der Truppe. Die Katze, einzig weibliches Tier, gilt als besonders sensibel, zugleich unangepasst und eigenwillig. Der Hund, loyal, helfend und anhänglich, ist der kameradschaftliche Begleiter, auf dessen gutes Gespür und Frühwarnsystem sich die Gruppe verlassen kann. Der Hahn, glänzend, wehrhaft, kampfeslustig, krönt die Pyramide. In erhobener Position wird er lauthals den Neubeginn verkünden. Gemeinsam sind sie unschlagbar. Vorbei sind Mutlosigkeit und Schlappheit, vergessen das Gesicht „wie drei Tage Regenwetter“. Einen anderen Blickwinkel eröffnen die ergänzenden Betrachtungen zur Funktion der Tiergestalten in der Sagen- und Mythenwelt: Die Katze, heiliges Tier in Ägypten, Verkörperung der Mondgöttin Bastet. Der Esel, in der griechisch-römischen Antike wegen seiner sexuellen Potenz mit Sinnlichkeit und Lüsternheit in Verbindung gebracht, fungiert als Reittier des Dionysos, dem die Musik zugeordnet ist. Der Hund, Bewacher des Eingangs zum Totenreich, gilt in vielen Religionen als Mittler zwischen Ober- und Unterwelt, Bewusstem und Unbewusstem, Himmel und Hölle. Und schließlich der Hahn auf dem Dach, der vor Dämonen schützt und Blitze ableitet. Alice Dassel interpretiert das Märchen von den „Bremer Stadtmusikanten“ unterhaltsam und fantasievoll als die Erfolgsgeschichte einer „Selbsthilfegruppe“ Verstoßener, die sich ihrem Schicksal nicht ergeben, sondern aktiv werden und ihr Leben in die eigene Hand nehmen. Auch wenn sich die Beschreibung dessen und Bezüge zur gesellschaftlichen Ausgrenzung alter Menschen in der Gegenwart stellenweise wie ein Motivationstraining für die zweite Lebenshälfte lesen, so empfiehlt sich der Text doch als interessante Lektüre für Erzieher, Eltern und andere Vorleser oder einfach all jene, die Märchen lieben. Antje Horn-Conrad
Antje Horn-Conrad
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