Kultur: Heidenreichs Aschenputtel
Ein musikalisches Märchen mit Elke Heidenreich und dem Staatsorchester Frankfurt
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„Das fängt nicht gut an, wir sind mitten drin in den verzwicktesten Familienverhältnissen“, sagt Elke Heidenreich. Wer kennt das nicht, mag sich da manch ein Zuhörer gefragt haben. Aha-Erlebnisse wie diese schenkt die Erzählerin dem Publikum im ausverkauften Nikolaisaal reichlich. Das alte Märchen vom „Aschenputtel“ so zu erzählen, dass 700 erwachsene Menschen gebannt zuhören, schafft wohl kaum einer außer ihr. Es gebe kein schöneres Thema zum Träumen, Musizieren, Tanzen, erklärte Elke Heidenreich einmal. Sie könne die Geschichte wieder und wieder erzählen.
Ob sie selbst einmal ein Aschenputtel war? Heute ist Elke Heidenreich eine der erfolgreichsten und beliebtesten Schriftstellerinnen, ihr Literaturmagazin „Lesen!“ ist ein Renner. Geboren wurde sie im Ruhrgebiet als einziges Kind eines Kfz-Mechanikers und Tankstellenbesitzers. Nun sitzt sie klein, mit leicht zerzausten Haaren, im schwarzen Samtanzug am Samstag im Potsdamer Nikolaisaal auf der Bühne und liest vor. Hinter ihr sitzen dicht an dicht die Musiker des Brandenburgischen Staatsorchesters. Am Pult steht der junge Dirigent Wilson Hermanto um Auszüge aus Sergej Prokofjews „Cinderella“ zu dirigieren, eine der anspruchsvollsten Ballettmusiken.
Das erste Wort hat die Erzählerin. Sie beginnt mit Grimms Märchen: „Einem reichen Mann wurde die Frau krank “ Mit den bekannten, vielen sicher gut vertrauten Sätzen nimmt sie das Publikum mit auf den Weg zu „ihrem“ Aschenputtel. Doch schnell unterbricht sie mit Fragen den Redefluss, mal naiv, mal kritisch, mal launisch. „Warum sitzt sie in der Asche?“, „Warum ist sie so brav?“ heißt es, oder „Hat der Königssohn das nötig, sich eine Frau zu suchen?“. Sehr unterschiedlich fallen die Antworten aus. Mal erklärend: „Bravsein war seit Jahrhunderten die Rolle der Frau“, mal bedeutend „Der Königssohn ist ein erfahrener Mann, der sich in der Welt umschaut“. Oder auch verschmitzt: „Es war höchste Zeit, dass dieser Vater einmal etwas Vernünftiges tut.“ Solch burschikose Bemerkungen mit empörter Stimme rufen viele Lacher hervor. Etwa wenn Aschenputtel laut nachdenkt, was die Leute wohl denken werden, und die Stiefmutter feststellt, dass die Tanzerei nichts mehr für sie ist.
Nach der Pause liegt eine Rose auf der Bühne. Elke Heidenreich nimmt sie auf und fragt: „Ist hier irgendwo ein Prinz oder eine Prinzessin?“ Jetzt ist sie ist kein Aschenputtel mehr, auch wenn die Geschichte noch lange nicht zu Ende ist. Denn, auch das lehrt die Geschichte, das Warten muss gelernt sein. Mit etwas Musik vergeht die Zeit oft schneller, hier dient sie jedoch zur Verlängerung des Ganzen. Sergej Prokofjews in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstandene Cinderella-Ballettmusik gehört zu seinen kühnsten Schöpfungen. Von den fünfzig, teilweise sehr kurzen Nummern spielte das Brandenburgische Staatsorchester rund dreißig. Sehr differenzierte Klangfarben verschmelzen mit prägnanten Motiven, ohne Scheu folgen auf grelle Bläserfanfaren und gewaltige Paukenwirbel zarte Triller von Flöten oder wehmütige Klarinettenklänge. Ein Walzer, der eben noch schmachtet und glitzert, klingt plötzlich hart und kriegerisch. Celesta, Piano und hohe Streicher wirken wie das Zitat einer spätromantischen Musikszene. Tuba, Klarinette und Kontrafagott ergeben aufregende Töne.
Die Mitternachtsstunde im Märchen wird als hochdramatischer, unheimlicher Wendepunkt sehr effektvoll ausgemalt. Prokofjews Klangfantasie scheint keine Grenzen zu kennen, doch es mangelt an sensibler Einfühlung und langem Atem. Zu schnell wechseln die Motive, kontrastieren Rhythmus und Dynamik. Unter der Leitung des jungen Amerikaners indonesischer Herkunft Wilson Hermanto prangt die Musik neonfarbig, im Breitwandformat, etwas überdimensioniert für den Nikolaisaal, doch insgesamt großartig in allen Sektionen. Sehr delikat erklingt der Spanische Tanz mit Englisch Horn, Harfe, Klavier und gedämpften Violinen.
Mit einer gleißenden Klangapotheose in den höchsten Lagen der Violinen wird Aschenputtel in den Alltag entlassen. Das Märchen ist zu Ende, aber damit ist noch längst nicht alles in Ordnung. Vielmehr muss sich jetzt erst zeigen, was aus dieser Liebe wird. Ein Vers von Hermann Hesse aus seinem Gedicht „Lebenswandel“ ist bei der Bewältigung der Lebensmühen behilflich. Dass etwas Poesie im rauen Alltag nicht schaden kann, lautet die bodenständige Botschaft, mit der Elke Heidenreich die begeisterten Zuhörer entlässt.
Babette Kaiserkern
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