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Tanztheater in der fabrik: Hemd gegen Hose

Laura Heinecke schafft mit „Invisible Roads“ ein kluges Stück Tanztheater, das auch verstören will

Stand:

Es beginnt mit einem Plopp: Laura Heinecke ist lautlos auf die Schultern ihres Tanzpartners Yannis Karalis geklettert und öffnet eine Flasche Sekt. Nicht zur Feier der Premiere, sondern als Auftakt ihres neuen, vielschichtigen Stücks „Invisible Roads“ in der fabrik. Um den Beginn einer schäumenden Liebe, das Sprudeln der ersten Verliebtheit geht es darin aber nicht: Genauso schnell wie Heinecke ihren Tanzpartner erklommen hat, ist sie wieder von ihm herunter und ihre Wege trennen sich. Weiter könnten sie gar nicht voneinander entfernt sein: Ganz vorne am rechten Bühnenrand steht Heinecke jetzt, entfaltet langsam ihren Körper in alle Richtungen, ganz hinten links hat Karalis sich am Boden zusammengekrümmt.

Nur ihre Kleider erzählen jetzt davon, dass die beiden doch zusammengehören. Sein Oberkörper ist nackt, er trägt nur eine blaue Anzughose. Sein weißes Männerhemd hat Heinecke an – sonst nichts. Zwei Menschen, zwei Positionen, ein Outfit. Jeder der beiden dreht sich um sich selbst und durch den Raum, nur widerwillig bewegen sie sich wieder aufeinander zu. Laura Heinecke schafft mit „Invisible Roads“ ein kluges Stück Tanztheater, das mit seiner spröden Ästhetik nicht nur gefallen, sondern auch verstören will.

Klar, hier geht es um ein Paar, das schon lange zusammen ist und sich der wichtigsten Frage in allen Beziehungen stellen muss: Wie weit kann ich mich selbst entfalten, wie weit muss ich Verantwortung für den anderen übernehmen? Wie viel Nähe kann ich zulassen, bevor Abhängigkeit entsteht – und wie passt das mit dem eigenen Bedürfnis nach Intimität zusammen? Worte und Dialoge könnten das kaum besser ausloten, als die beiden das mit ihrer Körpersprache tun.

Die Kleider zu teilen, das scheint zu viel an Nähe. Deshalb tauscht Heinecke das Hemd gegen Rock und T-Shirt und Karalis wirft sich zum Hemd noch ein Sakko über. Wieder treffen sich die beiden auf ein Glas Sekt. Aber auch das eine Glas zu teilen, scheint zu intim, sie überlässt es ihm und nimmt selbst einen tiefen Schluck aus der Flasche. Wieder trennen sich ihre Wege, doch zu dem schwermütigen Tango, der jetzt einsetzt, werden ihre Wege synchron, sie spiegeln sich in ihren Bewegungen. Mal zieht er sie zu sich heran, hebt sie hoch, dann wieder folgt sie ihm, springt auf seine Schultern. Irgendwann fallen sie gemeinsam, bleiben liegen wie zwei Löffelchen, bis er sich wieder entwindet.

Wirklich nah scheinen sich die beiden nie zu kommen, einer ist dem anderen meist voraus – es ist ein Kampf, aber ein zärtlicher, dem die etwa 60, fast ausschließlich jungen Zuschauer am Freitagabend bei der Premiere in der fabrik zusehen. So streitsüchtig ihr Tanz auch wirkt – Laura Heinecke und Yannis Karalis haben offenbar Spaß daran. Als sie sich, wieder einmal, am vorderen Bühnenrand zum Engtanz– oder ist es ein Nahkampf? - treffen, müssen beide verstohlen grinsen, wenn sie sich in die Augen sehen. Die Musik setzt aus, nur noch ihr Keuchen ist zu hören – und als sie wieder einsetzt, scheint ihre Kampflust fast verflogen. Wer ist oben, wer ist unten – wer hier Macht über den anderen hat, testen sie jetzt nur noch spielerisch aus. Ganz vorsichtig, fast liebevoll steigt Heinecke auf ihren am Boden liegenden Partner, setzt einen Fuß vor den anderen und schreitet langsam seinen Körper ab.

Irgendwie scheint dieses Paar dann seinen Rhythmus gefunden zu haben, sie schlingen sich umeinander, selbstvergessen, konzentriert – nicht erotisch, aber auf andere Art so intim, dass man als Zuschauer am liebsten wegsehen würde. Ganz der Welt abgewandt sind sie aber nicht, am Schluss drehen sie den Spieß um: Die Scheinwerfer am hinteren Rand des Bühnenbodens richten sich auf das Publikum. Das Paar steht da und guckt zurück. Und gibt die Machtfrage einfach weiter an das Publikum. Ariane Lemme

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