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Kultur: Hotel Heimat

Die Distel eröffnete die Kabarettwoche am Obelisk

Stand:

Keine Ruhe im sparsam möblierten Zimmer vom „Hotel Heimat“. Nur wenige Stühle bleiben leer, als die Satiriker der Berliner „Distel“ die traditionelle Potsdamer Kabarettwoche am Obelisk am Dienstagabend eröffnen.

Und wer da alles einkehrt in ihr „Hotel Heimat“. Über 30 Charaktere schlagen kurzzeitig ihr Revier auf, verkörpert von den fulminanten Kabarettisten Dagmar Jaeger, Stefan Martin Müller und Michael Nitzel. Mitunter ist es unheimlich, wie schnell sie ihre Kostüme wechseln, um binnen weniger Sekunden in neuer Rolle mit veränderter Stimmfarbe wieder einzuchecken.

Wie es sich für die traditionsreiche Gruppe „Die Distel“ gehört, kratzen sie mit ihren Stacheln nicht nur an der Oberfläche der gesellschaftlichen Abgründe, sondern tauchen tief in sie ein. Dass sie sich den Mund nicht verbieten lassen, musste das DDR-Regime über 35 Jahre hinnehmen. Ihr Themenspektrum erweitern sie indes stetig: Globalisierung, demographischer Wandel, Religion und Arbeitsmarkt. Viel Lärm wird veranstaltet; es wird geschrien und geflucht, gemeckert und gezetert. Aber es ist viel Lärm um viel Wichtiges – schließlich sind es Themen, die tagtäglich in abgeänderter Form auf den Titelseiten prangen.

Sie schleudern die Vorurteile nur so umher, um sie wenig später umso effektvoller zu zerschmettern: Da springt eine türkische Putzfrau scheinbar mit Sprengstoffgürtel ausgestattet auf die Bühne, zückt aber dann aus selbigem nur das Raumspray. Der Charakter mit den größten Sympathiewerten ist der betrunken-manische Horst Pansenmacher. Der Bundestagsabgeordnete ist seit vier Legislaturperioden im Bundestag, bekommt aber von seiner Partei immer noch so „wichtige“ Aufgaben wie die Eröffnung eines Supermarkts in Hellersdorf-Süd aufgedrückt. Der Dampf, den Pansenmacher in den Saal bläst, ist mit Galle und Zynismus versetzt und – das ist das eigentlich traurige – enthält so viel Wahrheit. Von Fremdscham bis freudigem Schenkelklopfen kann das Publikum alle Emotionen, die von der Bühne niederregnen, mit durchleben.

Zuweilen enden die kurzen Szenen mit kernigen, manchmal zu gewollten Pointen, die in Hau-Drauf-Manier den Deckel zuknallen. Eigentlich unnötig, denn die einzelnen Versatzstücke wirken oft so rund und durchdacht, dass der sketch-artige Abschluss nur ablenkt.

Aber nicht nur in den vier Wänden des Hotelzimmers, begrenzt durch Leuchtstoffröhren, geschieht Famoses. Die Musik spielt nämlich am Rand der Bühne. Und wie! Die Arbeit von Bernd Wefelmeyer und Matthias Lauschus war an diesem Abend mehr als nur schmückendes Beiwerk. Für Wefelmeyer (hauptsächlich Gesang und Tasteninstrumente) und Lauschus (Gitarre, Trompete, Kazoo, Percussion, Gesang) schien nichts unmöglich. Wenn ein junger Akademiker mit Abschluss in Philosophie über seinen steilen Aufstieg schwadroniert (Praktikum bei Burger King, dann „Karriere“ im Taxi-Gewerbe) und dazu eine weiße Feder in die Luft bläst, weht dazu sanft die Musik aus „Forrest Gump“ ins Hotelzimmer. Egal ob die drei Kabarettisten Johnny Cash oder Genesis verhunzen, die Musiker liefern passgerecht die Begleitung.

Auch am Ende will keine Ruhe einkehren: für ein Zugabenlied wird die Gruppe noch einmal auf die Bühne zurückgeklatscht und erst nach mehrmaligen Verbeugungen werden die stachligen Kabarettisten entlassen.

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