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Kultur: „Ich werde nie aufhören, Jude zu sein“

Mihail Sebastian wurde bei Wist durch seine Tagebücher vorgestellt

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Tagebücher erlauben einen besonderen Einblick in das Leben der Schreibenden, sie sind näher an ihnen als ein Essay oder ein Roman aus der gleichen Feder. Ängste und Freuden können unmittelbarer miterlebt werden, die Zeit erhält durch die subjektive Brille des Schreibenden erneut Präsenz. Wir kennen die Kraft des Tagebuchwortes vor allem durch Viktor Klemperer.

Am Dienstagabend stellte der Herausgeber und Übersetzer Edward Kanterian das Tagebuch Mihail Sebastians „Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt“ aus den Jahren 1935 bis 1944 im Literaturladen Wist einem zwar recht überschaubaren, aber sehr interessierten Publikum vor. Der jüdische Schriftsteller und Literaturkritiker überstand die schlimmsten Pogrome, kam aber 1945 bei einem Autounfall erst 38-jährig ums Leben. Das mag erklären, weshalb sein Werk, das aus Romanen, Theaterstücken, Essays und Kritiken besteht, weitgehend unbekannt geblieben ist. Seine Memoiren protokollieren wach und erschüttert die Veränderungen in Bukarest, die Pogrome, die schleichende Ideologisierung selbst seiner besten Freunde und natürlich auch die Isolation, in die Sebastian zunehmend kam. Durfte er, der als große literarische Hoffnung galt, anfangs noch in „Das Wort“, der einflussreichsten Literaturzeitschrift Rumäniens, als Redakteur publizieren, was er wollte, so verlor er 1940 sowohl seine Lizenz als Rechtsanwalt als auch seine Stelle als Redakteur. Die Perfidie der Herrschenden liest sich im Entlassungsschreiben als „wir haben die Ehre, Sie darüber zu informieren, dass Sie... suspendiert sind, weil Sie Jude sind.“ Schon lange vorher, im Jahr 1934, hatte er eine Riesenenttäuschung erleben müssen: sein Mentor, bewunderter Lehrer und charismatischer Freund, Nae Ionescu, der „Das Wort“ herausgab und Sebastian anfangs sehr förderte, schrieb auf Verlangen seines Schülers das Vorwort für dessen Roman „Seit zweitausend Jahren“. Doch Sebastian hatte in seiner Verehrung für Ionescu übersehen, dass dieser inzwischen mit der antisemitischen „Eisernen Garde“ sympathisierte. So wurde aus dem Vorwort ein Plädoyer für den Antisemitismus – und das bei einem Roman, der von einem Juden geschrieben worden war.

Wieso Sebastian dieses, einem Todesurteil gleichkommende Vorwort nicht abgelehnt hat, konnte Edward Kanterian nicht ausreichend beantworten. „Das ist etwas, was man nur in Rumänien versteht“, sagte er lächelnd und versuchte, die Loyalität Sebastians seinem ehemaligen Förderer gegenüber als Grund dafür in die Waagschale zu werfen.

Es sei eine große Arbeit gewesen, die mehr als 800 Tagebuchseiten, die zuerst in Frankreich erschienen sind, ins Deutsche zu übersetzen. Kanterian, der in Oxford Philosophie lehrt, sagte, er sei dadurch, dass er selbst rumänisch-armenischer Herkunft sei, für solch wertvolle Zeugnisse doppelt sensibilisiert.

Der Genozid am Volk seines Vaters und das Schicksal des rumänischen Volkes habe ihn schließlich auch auf das Unglück der rumänischen Juden aufmerksam werden lassen. Und da gibt Sebastians Tagebuch bestens Zeugnis ab, er hadert mit seinen Freunden, leidet an der Ausrottung seines Volkes und fürchtet um seine Familie und sich selbst. Aber immer bleibt er bei seiner intellektuellen Beschäftigung, die ihn wohl auch vor der kompletten Verzweiflung schützte. Und, anders als sein berühmter Landsmann Eugene Ionescu, bekannte er sich um so leidenschaftlicher zum Judentum. „Auf einer sonnigen Insel irgendwo im Ozean wäre es mir gleichgültig, ob ich Jude bin oder nicht. Aber hier und jetzt kann ich nichts anderes sein. Und ich will auch nichts anderes sein.“Lore Bardens

Lore Bardens

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