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Ablegen und ankommen. Verreisen in den eigenen Träumen. Norbert Leisegang (2.v.l) und seine Musiker Hartmut (r.) und Roland Leisegang (l.) sowie Andreas Sperling (Mitte) und Rüdiger Feuerbach schauen auf ihrem neuen Album „Kolumbus“ durchaus sozialkritisch in den deutschen Alltag.

© promo

Kultur: „Ich wollte singen wie Dave Gahan“

Keimzeit-Sänger Norbert Leisegang (52) über Auszeiten, Beifallssucht und die Angst vorm Altwerden

Stand:

Herr Leisegang, Sie feiern am heutigen Freitag im Lindenpark mit dem neuen Album „Kolumbus“ Ihr 30-jähriges Bühnenjubiläum. Es gab Zeiten, da dachte man, Keimzeit ist verschwunden.

Wir hatten schon vier, fünf Auszeiten. So 1996 nach unserem Album „Primeln und Elefanten“. In solchen Schaffenskrisen bleibt mir nichts anderes übrig, als geduldig zu sein und zu warten, bis ein Stoff wieder auf mich zukommt. Da ich selbst die Songs schreibe, ruht der ganze Laden, wenn mir keine neuen Texte einfallen. So war es auch, als ich vor zwei Jahren auf den Balkan reiste.

Warum gerade dorthin?

In den 80ern war ich oft in Rumänien, Bulgarien und Ungarn unterwegs. Ich wollte schauen, wie es jetzt dort aussieht. Und da treffe ich im Schlafwagen einen bulgarischen Migranten, der in Cuxhaven als Koch arbeitet. Er erzählt mir, dass seine inzwischen mutterlosen kleinen Töchter auf ihn warten, er aber nach Deutschland muss, um Geld zu verdienen. Solche Sachen bewegen mich. Und daraus entstehen dann eben Lieder.

Bei ihrem Song „Streik“ beschreiben Sie, wie das gesamte S-Bahn-Netz zusammenbricht und wie die Stadt im Chaos versinkt. Und Sie entwickeln die Vorstellung, wie es wäre, wenn alle mal gemeinsam streiken würden.

Heute muss ja fast jeder streiken. Ruft die Gewerkschaft dazu auf, fährt eben mal kein Zug mehr. Es geht darum, sich im Kapitalismus durchzusetzen. Was wäre aber, wenn wir alle streiken?

Auch Musiker?

Na bei Musikern wird es lächerlich. Die dürfen nur meckern und Missstände in die Lieder packen. In der Musik geht es um das Emotionale. Das Publikum erwartet nicht, dass wir ihm die Welt erklären.

Da Sie deutschsprachig singen, hört man aber schon genau auf die Texte.

Dass ich deutsch singe, ist ein bisschen aus der Not heraus entstanden, da ich des Englischen nicht so mächtig bin. Ich kann also nicht flüchten. Man merkt Künstlern ohnehin an, wenn sie nicht aufrichtig sind und dem Publikum was vormachen.

Wann sind Sie unehrlich?

Wenn ich versuche, Songs zu schreiben und zu singen wie jemand, den ich toll finde. Dann gerate ich in eine Sackgasse und kriege 1:1 die Quittung und muss mich wieder korrigieren. Eine Zeitlang wollte ich gern singen wie Dave Gahan von Depeche Mode. Aber seine Stimme gibt es eben nur einmal.

Ihre Schlussfolgerung?

Ich befinde mich in meinem eigenen Kerker und kann nur das machen, was mir zur Verfügung steht. Man muss bei seiner eigenen Musik bleiben, auch wenn der Erfolg mal nicht so stabil ist.

Aber jede Band lässt sich doch von anderen beeinflussen, auch musikalisch.

Natürlich schaut man als Musiker in die weite Welt, ist begeistert von der afrikanischen Folklore oder Popsongs aus England. Doch nimmt Keimzeit Latino-Rhythmen, wird es doch wieder brandenburgische Musik. Man wird immer auf sich selbst zurückgeworfen, und das verursacht eben auch Krisen.

Welche therapieren Sie momentan?

Meine permanente Erfolgssucht. Ich will beklatscht und geliebt werden. Also muss ich Alben schreiben und so gut wie möglich singen. Ja, und dann versuche ich wie besessen dem Älterwerden entgegenzutreten, mache Sport, ernähre mich gesund. Und weiß, das ist alles Quatsch. Der Naturprozess ist irreparabel. Ich mache es trotzdem.

Und was machen Sie in diesen schwarzen Phasen?

Mich zurückziehen.

Wie hält das die Familie aus?

Vielleicht nur so viel: Ich würde niemandem empfehlen, mit einem Künstler zusammenzuleben. Andererseits finde ich, dass diese Phasen für einen Künstler notwendig sind, denn daraus schöpft er sein Material. Man kann das Ende auch nicht erzwingen, sondern muss so lange warten, bis man wirklich draußen ist. Es ist eine Frage der Geduld. Aber eine Krise bleibt eine Krise.

Also könnte jedes Album das letzte sein?

Ja. Aber man muss immer vom halbvollen Glas ausgehen. Und Themen, über die man schreiben kann, gibt es genug. Daran liegt es nicht und Menschen interessieren sich auch immer für Musik, vielleicht sogar besonders in krisengeschüttelten Zeiten. Viele hören Keimzeit gern, um sich zu entspannen und den Alltag zu vergessen.

Nervt es Künstler eigentlich, wenn sie auf der Straße angesprochen werden?

Mich nicht. So oft passiert es auch nicht.

Aber spätestens seit „Kling Klang“ sind Sie doch auf jeder Party der Tanz-Opener.

Klar, jeder kennt den Song, auch junge Leute haben ihn auf dem I-Pod. Aber sie kennen nicht die Gruppe Keimzeit. Das habe ich gerade im Zug erlebt, als ich neben einer Schülerin saß, die das Lied hörte, mich aber keines Blickes würdigte.

Dabei füllen Sie große Säle. Wie viele Auftritte geben Sie durchschnittlich?

In diesem Jahr sind es 55. Alles andere wäre zu viel. Aber auch so kommt es zu Formschwächen. Und was ich überhaupt nicht leiden kann, ein- bis zweimal im Jahr kriege ich eine Angina. Dann stehe ich immer vor der Entscheidung: Auftreten oder das Konzert abblasen. Meistens singe ich und krächze mich durchs Konzert.

Die Quittung?

In der Zeitung steht am nächsten Tag, dass ich furchtbar alt aussehe und abtreten soll. Dann bin ich noch mehr am Boden: physisch und psychisch.

Sie geben öfter Konzerte in Belzig. Wie wichtig ist Ihnen Heimat?

Ich lebe ja in Potsdam und der Hohe Fläming ist irgendwie dazugehörig. Ich treffe hier wie dort den gleichen Menschenschlag, den Brandenburger, und der gefällt mir. Er ist schlicht und grob zugleich. Man ist ehrlich zueinander und pflegt Tugenden und Traditionen.

Beschäftigen Sie sich schon mit dem Thema Aufhörenmüssen?

Natürlich! Das macht doch jeder in dem Alter. Gerade wenn er seinen Beruf mit Leidenschaft ausübt.

Als Lehrer hätten Sie auf eine sichere Beamtenrente zusteuern können.

Ich bin zwar Mathe- und Physiklehrer, aber nicht über die Referendariatszeit hinausgekommen. Mich nahm man im Referendariat  gar nicht wahr. Die 6. Klasse war in Mathe fitter als ich und hat sofort gemerkt, ich bin eine Lusche.

Also nichts wie gemeinsam mit Ihren Brüdern auf die Bühne ...

Wir hatten das Glück, in den 80ern von Wald-Open-Air zu Wald-Open-Air, von Gaststätte zu Gaststätte ziehen zu können. Doch als man merkte, dass ich als Amateurmusiker keinem richtigen Job nachging, was in der DDR gesetzlich vorgeschrieben war, wurden wir verboten.

Also erst mal aus der Traum?

Wer hält sich mit Anfang 20 schon an Verbote. Und es hat niemand den Stecker  gezogen.

Das Gespräch führte Heidi Jäger

Keimzeit spielt am heutigen Freitag, 28. September, um 20 Uhr, im Lindenpark, Stahnsdorfer Straße 76. Die PNN verlosen dreimal zwei Freikarten und drei CD heute um 10 Uhr unter Tel.: (0331)23 76 116

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