Kultur: Ideologischer Sprengsatz
Wie Eisenstein Wagner vor Propaganda rettete
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Von der Aufführung 1940 am Moskauer Bolschoj Theater existiert keine Filmaufnahme, und auch Fotos gibt es nicht. Trotzdem hat der Philosoph Dieter Thomä ein Buch über diese Inszenierung von Richard Wagners „Walküre“ geschrieben.
Jetzt stellte Thomä sein frisch im Suhrkamp-Verlag erschienenes Buch „Totalität und Mitleid“ im Einstein-Forum vor. Gestützt habe er sich bei seinen Recherchen auf Zeichnungen des sowjetischen Regisseurs Sergej Eisenstein, auf dessen Regieanweisungen sowie auf überlieferte Augenzeugenberichte, so der 46-jährige Professor für Philosophie.
Ein Abend für die breite Masse war die Buchvorstellung zugegebenermaßen nicht, aber an die wendet sich das 278-seitige Werk wohl auch nicht.
Dieter Thomä veranstaltete keine klassische Lesung, sondern brachte einen rund einstündigen Vortrag zu Gehör. Dabei hielt er sich gar nicht erst damit auf, die Handlung des Gesamtwerkes „Der Ring des Nibelungen“ nachzuerzählen, aus dem die Oper stammt. Auch beschrieb er nicht, was sich bei der Inszenierung eigentlich auf der Bühne abgespielt hatte. Stattdessen stieg er gleich in die formal-ästhetische Analyse ein. Dem anwesenden Publikum schien die Geschichte jedoch vertraut zu sein. Nachfragen gab es keine.
Grob umrissen geht es um die unter keinem glücklichen Stern stehende, inzestuöse Liebe zwischen den Zwillingen Siegmund und Sieglinde, Kinder des Windgottes Wotan. Sieglinde ist jedoch mit einem anderen verheiratet, begeht also Ehebruch, was in den Augen der nordgermanischen Liebesgöttin Fricka unverzeihlich ist. Deshalb fordert sie Wotan auf, zum nächsten Kampf des Helden Siegmund die Walküre Brünhilde, eine Art Todesengel, zu entsenden. Siegmund soll sterben, käme aber dann nach Walhall, ins Paradies für Helden. Vor Ort erkennt Brünhilde jedoch tief gerührt, dass Siegmunds Liebe zu Sieglinde viel größer ist, als sein Wunsch, den Heldentod zu sterben. Und sie lässt ihn leben.
Zentrale These in Thomäs Vortrag war nun, dass Regisseur Eisenstein durch die Art, wie er Brünhildes Mitleid zum wichtigsten Motiv seiner Inszenierung machte, Richard Wagner davor gerettet hatte, für faschistische Kriegspropaganda herzuhalten. In den Vorjahren war die Wagner-Oper unter Hitler zur Motivierung von deutschen Soldaten eingesetzt worden. Sie sollten für das Deutsche Reich den germanischen Heldentod sterben. Mitleid mit den Gegnern war in den militärischen Plänen des „Führers“nicht vorgesehen. Doch gerade dieses Gefühl, so Thomä, sei Brünhildes Grund gewesen, nicht zu töten.
Ob sich der Regisseur der ideologischen Spengkraft seines Ansatzes ganz bewusst war, bezweifelt Thomä zwar. In jedem Fall wolle er aber Kritikern widersprechen, die unterstellen, Eisenstein habe mit seiner Inszenierung das totalitäre Regime von Stalin unterstützt, nur weil Wagner zuvor schon für die totalitäre Ideologie Hitlers missbraucht worden war.Juliane Schoenherr
Juliane Schoenherr
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