ZUR PERSON: „Ihre Größe lag im Bewahren“
Ein Gespräch mit Dagmar von Gersdorff, die am Dienstag ihr Buch „Goethes Enkel“ in Potsdam vorstellt
Stand:
Frau von Gersdorff, im März titelte das Magazin Literaturen „Goethe Reloaded“. Martin Walsers Roman „Ein liebender Mann“, Sigrid Damms „Goethes letzte Reise“ und zum Teil auch Ihr Buch „Goethes Enkel“ beschäftigen sich mit den letzten Lebensjahren des großen Dichters. Warum auf einmal dieses geballte Interesse am hochbetagten Goethe? Allein mit dem Erscheinen von „Faust“ vor 200 Jahren lässt sich das wohl kaum erklären?
Nein, denn das Interesse ist nie ganz abgerissen. Von Goethe ist immer viel die Rede. „Goethes Enkel“ ist mein mittlerweile sechstes Goethe-Buch. Die anderen handeln von seinen Freundinnen und Briefpartnerinnen. Aber das bedeutendste Buch ist die Biografie über seine Mutter. Wenn man ein solches Buch geschrieben hat, ist es nur konsequent, sich auch mit den Enkeln zu beschäftigen. Die Frage, was aus dieser Familie wurde, war mein Anliegen, dieses Buch zu schreiben.
Sie haben sich mit Walther, Wolfgang und Alma, die schon mit 16 Jahren starb, den Kindern von Goethes Sohn August und dessen Frau Ottilie beschäftigt. Solange der Großvater Goethe lebte, hatten vor allem Walther und Wolfgang eine glückliche Kindheit. Nach Goethes Tod war deren Leben von Misserfolgen geprägt, weil sie nie aus dem Schatten ihres übergroßen Großvaters herauskamen. Der Name Goethe für die Nachgeborenen also ein Fluch?
Eine Belastung. Die Kinder wurden 15 Jahre lang fast ausschließlich vom Großvater erzogen. Ihr Vater war tot und Goethe ersetzte den Vater. Dieser Großvater war der berühmteste Dichter Deutschlands, ein viel besuchter und genialer Mann. Die Kinder lebten bei Goethe wie kleine Götter, hatten alles, was das Herz begehrt. Die Güte und die Zuwendung dieses Großvaters hat sie unheimlich beeindruckt und beeinflusst. Dann der jähe Tod. Das Haus ist plötzlich leer, die Zimmer sind kalt. Nur eine hektische, rastlose Mutter rennt herum. Das war ein starker Bruch im Leben der Kinder, den sie erst gar nicht verkraften konnten. Später, als Erwachsene, wurden sie immer wieder mit dem Satz konfrontiert: Ach, Sie sind die Enkel Goethes, was leisten Sie denn? Das war zweifellos eine Belastung.
Es gab Versuche der beiden, sich künstlerisch zu profilieren. Walther wollte Opernkomponist werden, Wolfgang Schriftsteller. Mangelte es den beiden einfach nur am nötigen Selbstbewusstsein gegenüber dem übergroßen Goethe, oder waren sie einfach nicht gut genug?
Ihre Begabung war durchschnittlich. Aber sie wurden nicht am Durchschnittlichem gemessen, sondern am Höchsten. So hat ein Opernintendant Walthers Mutter geantwortet, dem sie dessen Oper geschickt hatte, er wolle bei dem Namen nicht mit normalen Kompositionen handeln. Er brauche Bestes! Diesen großen Anspruch konnten die Enkel nicht erfüllen. Wolfgang verfasste Gedichte, die so mittelmäßig waren, dass man sich heute fragt, woher er den Mut nahm, sie zu veröffentlichen. Auch Walther hat geschrieben, doch von den 1000 gedruckten Exemplaren seines Buches „Fährmann, hol“ über!“ wurden nur 135 verkauft.
Trägt vielleicht auch der Dichter Goethe, der sich seiner Bedeutung sehr wohl bewusst war, Schuld an dem Scheitern seiner Enkel, weil er große Erwartungen in sie gesetzt hat?
Ja, Goethe hatte Erwartungen in seine Enkel gesetzt. Das kann man aber nicht als Schuld an deren Scheitern bezeichnen. Er war einfach nur stolz auf sie. Walther kommt nach Hause und singt Mozarts Arien, die er erst kurz zuvor in der Oper gehört hat, fehlerfrei in Goethes Wohnzimmer nach. Also ist der Junge musikalisch. Wolfgang schreibt Rezensionen und liest sie seinem Großvater vor. Goethe ist hingerissen und sagt: Du wirst ein Dichter. Die Kinder sind da zwischen acht und zwölf Jahre alt. Goethe hat reagiert, wie es jeder andere stolze Großvater auch heute tun würde.
Wolfgang und Walther ist es zu verdanken, dass Goethes umfangreicher Besitz und die zahlreichen Sammlungen nicht in alle Winde verstreut wurden, sondern bis heute in Weimar erhalten blieben. Rückblickend lässt sich sagen, dass die Enkel, trotz verlockender Angebote, gerade an dem festhielten, was sie am stärksten in ihrer Entfaltung behinderte.
Dadurch zeichnen sie sich aber aus. Sie haben gesehen, dass Schillers Kinder nach dessen Tod das Haus verkauften und das Eigentum des Dichters in der ganzen Welt zerstreut wurde. Walther und Wolfgang aber hatten ihren Großvater so hoch geachtet, dass sie selbst bei größter bescheidener Lebensführung den umfangreichen und wertvollen Besitz von Goethe zusammenhielten. Indem sie alles bewahrten, zeigten sie ihre Größe.
Starken Einfluss auf die Entwicklung von Walther und Wolfgang hatte deren Mutter Ottilie, eine rastlose und ewig dem Glück nachjagende, nie zufriedene Frau. Ein Psychoanalytiker hätte seine wahre Freude an dieser Familienkonstellation gehabt.
Ottilie ist eine unglaubliche, rätselhafte und sicher auch psychopathische Frau gewesen, die zum Schaden der Kinder nur ihrem eigenen Glück nachjagte. Sie hatte Affären und brachte ein viertes, uneheliches Kind zur Welt, worüber ihre Söhne zutiefst betroffen waren.
Hatte dieser Lebensstil Ottilies Auswirkungen auf die Entwicklung von Walther und Wolfgang?
Die beiden hatten später kaum Kontakt zu Frauen. Walther und Wolfgang haben nie geheiratet. Das ist doch auffällig. Ich gehe ja auch auf die Homosexualität Walthers ein, die durch Tagebucheintragungen des Komponisten Robert Schumanns belegt ist. Bei Wolfgang deutet sich das ebenfalls an.
Sie haben insgesamt sechs Bücher über Goethe geschrieben. Dabei fällt gelegentlich auch der Name Ihrer Familie von Gersdorff. Wie war Ihre Familie mit Goethe verbunden?
Der von mir in „Goethes Enkel“ genannte Gersdorff war Staatsminister in Sachsen-Weimar. Aber dieser Freiherr von Gersdorff ist nur indirekt mit meiner Familie verwandt.
Also kann Ihre intensive Beschäftigung mit Goethe nicht als Familienforschung in eigener Sache verstanden werden. Warum dann Ihre anhaltende Beschäftigung mit Johann Wolfgang von Goethe?
Ich war schon immer fasziniert von der Goethe-Zeit. Mein erstes Buch habe ich über den Schriftsteller Clemens Brentano geschrieben, einen Zeitgenossen Goethes. Dann kam die Biografie über Goethes Mutter, ein großes Thema. Seitdem bewege ich mich in der Goethe-Zeit und werde auch noch einige Zeit dort verbringen.
Das Gespräch führte Dirk Becker.
Dagmar von Gersdorff stellt am Dienstag, 15. April, „Goethes Enkel“ um 19 Uhr in der Urania, Gutenbergstraße 71/72 vor. Der Eintritt kostet 6, ermäßigt 5 Euro. Reservierungen unter Tel.: (0331) 29 17 41.
Dagmar von Gersdorff wurde 1938 in Trier geboren und lebt heute als Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin in Berlin.
Sie studierte an der Freien Universität Berlin Germanistik und Kunstgeschichte, ihre Promotion schrieb sie über den Einfluss der deutschen Romantik auf Thomas Mann.
Schwerpunkt ihrer literaturwissenschaftlichen Arbeit liegt auf Goethe und dessen Familie. So hat Dagmar von Gersdorff unter anderem „Goethes Mutter. Eine Biographie“ und „Goethes erste große Liebe Lili Schönemann“ geschrieben.
1985 und 1988 erhielt Dagmar von Gersdorff den Kulturpreis des Landes Rheinland-Pfalz. Sie ist Mitglied der internationalen Schriftstellervereinigung PEN. D.B.
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