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Kultur: Im alten Rockeuropa

„Die Happy“ aus Ulm im Lindenpark

Stand:

„Die Happy“ aus Ulm im Lindenpark Am Montag rockte das alte Europa im Lindenpark. Das alte Europa der Rockmusik bestand aus deutschen Bands, die auf Englisch singen, nicht, weil ihnen die Sprache so gut liegt, sondern eher, weil man mit einem Auge immer auf die großen amerikanischen Vorbilder geschaut hat. Im alten Europa hing die Gitarre tief zwischen den Beinen und die Gesten waren vor Pathos dick aufgetragen, weil das Ziel hieß, irgendwann in einem Stadion aufzutreten. „Die Happy“, die den Lindenpark zu einem solchen Stadion voller hochgestreckter Hände verwandelten, gehören zu diesem alten Rockeuropa, wie die Guano Apes, Doro Pesch und den Scorpions. „Die Happy“, nennt sich schon seit zehn Jahren nach einem angeblichen Surfer-Gruß, der unfreiwillig auf das Kommen des neuen Europas hinweist: „Stirb fröhlich“. Das neue Europa glaubt nicht mehr den Produzenten, die behaupten, dass europäische Bands den US-Markt erobern könnten, sofern sie nur handgemachten Rock spielen, es singt das, was es versteht und aussprechen kann, wohnt meist in Berlin-Mitte und hat ein Händchen für Elektronik. „Die Happy“ machen all das nicht, und trotz der Menge meist junger männlicher Fans, die der beeindruckenden Frontfrau Marta Jandová vom ersten Moment zu Füßen liegen, überkommt den Betrachter Wehmut. Weil sich hier eine Stimme, ein Talent in einem zweistündigen Kraftakt verausgabt, in dem eine Hochgeschwindigkeitsnummer inklusive Mitsing-Refrain der nächsten folgt, ohne den ganz großen Erfolg zu haben. Die Ulmer mit der aus Tschechien stammenden Sängerin fegen ihren Stadionrock auch durch relativ kleine Hallen und haben eine sichtbar intensive Beziehung zu ihren Fans. Von der ersten Minute wogen auf den hoch erhobenen Armen halsbrecherisch die Stagediver, die Menge ist äußerst textsicher, Jandová braucht nur das Mikro ins Publikum zu halten. Was „Die Happy“ nicht haben: den wirklich tollen Song. Im Lindenpark feiert man das zehnjährige Bandjubiläum mit einem Programm, das durch die Bandgeschichte führt. Nur der große Hit war irgendwie nie dabei. „Big Boy“ oder die mit Gewalt über die Musikkanäle verbreitete letzte Single „Slow Day“, die Jandová im akustisch begleiteten Mittelteil vortrug, besitzen leider nicht die zwingende Ohrwurmqualität. Die Härchen, die sich zu einer Gänsehaut aufrichten wollen, bleiben auf halber Strecke stehen. Auf der Suche nach dem guten Song reist Marta samt Gitarristen, Bassisten und Schlagzeuger mittlerweile durch die ganze Welt, sogar in L.A. waren sie im Studio. Herausgekommen sind Texte, deren Stanzen aus Phrasen wie „tell me“, „I realize“ und „I can´t find you“ wie aus dem Baukasten wirken. Das musikalische Strickmuster überdeckt die tatsächlich konkurrenzlose Wandlungsfähigkeit von Jandovás Organ, im Lindenpark ging der Pegel der Anlage wirklich in Richtung Stadionbeschallung. Den grenzwertigen Sound konnte die sich scheinbar verausgabende Rockröhre nur durch Hüpfen und Springen ausgleichen. Auch die Vorband „Julia“, vier Jungs aus Österreich, hat sich diesem alten Europa verschrieben. Allerdings hingen ihre Gitarren noch tiefer, das Rockgrößen-Gehabe war gröber, die Songs schlechter und hätte der Sänger nicht diese beeindruckende Körperspannung zur Schau getragen, wäre das „alte Europa“ vielleicht schon hier vorzeitig untergegangen. Matthias Hassenpflug

Matthias Hassenpflug

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