Kultur: Im Bollerwagen
Olaf Ihlau stellt sein Buch im Kutschstall vor
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Ein schier endloser Strom deutscher Flüchtlinge marschiert Anfang November 1945 durch Niederschlesien nach Norden. Vorbei an öden Feldern, den Ruinen ausgebrannter Dörfer, geplünderten Gehöften und zahlreichen Toten am Wegesrand. Meist müssen die Flüchtlinge unter freiem Himmel übernachten und befürchten, dass bewaffnete Wegelagerer ihre wenigen auf Karren und Handwagen geladenen Habseligkeiten rauben. Auch der damals dreijährige Olaf Ihlau sitzt auf einem der Wagen und erlebt diesen Elendszug mit. In seinem Buch „Der Bollerwagen. Unsere Flucht aus dem Osten“ (Siedler Verlag, 16,99 Euro), das er am heutigen Dienstag in Potsdam vorstellt, blickt er zurück auf Kriegskindheit, Flucht und Jugend und erzählt die Geschichte seiner Familie und ihrer langen Reise in den Wirren der deutschen Nachkriegszeit.
Dass der heute 72-jährige Journalist und Autor nicht nur seine Lebenserinnerungen schildert, sondern historische oder kulturgeschichtliche Exkurse einflicht, verhilft seinem Buch zu besonderer Qualität. Seiner Geburtsstadt Königsberg etwa widmet Ihlau gleich ein ganzes Kapitel. Flüssig und präzise zeichnet er ihre Geschichte nach: vom Spätmittelalter bis zu ihrem Aufstieg als europäische Metropole und Krönungsstadt der preußischen Monarchen. Auch die Rolle Königsbergs während des Dritten Reichs beleuchtet er und setzt sich damit auseinander, dass seine Eltern, ein Komponist und eine Schauspielerin, Mitläufer gewesen sind. Selber kann sich Ihlau kaum noch an die Stadt erinnern, wohl aber an den 30. August 1944, als Königsberg „im Feuersturm der Phosphorbomben verglüht“. Nur einen Bollerwagen mit einigen Koffern konnte der Großvater aus den Flammen retten.
Mit diesem Gefährt im Zugabteil können Mutter und Sohn zunächst in das sudetendeutsche Gebiet der ehemaligen Tschechoslowakei fliehen, wo sie das Kriegsende erleben. Als dort im Herbst 1945 alle Deutschen enteignet und zum Verlassen des Landes gezwungen werden, geht die Flucht weiter. Mit ihrem Jungen, der auf den Koffern im Bollerwagen sitzt, schließt sich Ihlaus Mutter einem großen Flüchtlingstreck an, der sich entlang der Oder-Neiße-Linie bewegt. Die Strapazen unterwegs, die tägliche Angst und Anarchie; von all dem hat die Mutter oft erzählt und Ihlau weiß es eindrücklich zu schildern. Nach einem über 550 Kilometer langen Marsch erreichen beide schließlich Berlin. Sie passieren endlose Trümmerlandschaften, ziehen weiter nach Magdeburg, dann nach Hannover und kommen im März 1946 im oberbayerischen Traunstein an, wo sie der aus dem Krieg heimgekehrte Vater erwartet. Der Bollerwagen ist auf all diesen Stationen dabei, versagt nie seinen Dienst. Und ist auch der wiedervereinten Familie weiterhin unentbehrlich, etwa beim Brennholztransport oder später, beim Hausbau in Köln, ehe das schlichte, aber solide Vehikel allmählich in Garagen und Kellern verschwindet. Getrennt hat sich Olaf Ihlau jedoch bis heute nicht von der Familienreliquie.
So ist dieser Bollerwagen gleichsam ein Kompositionselement und der rote Faden des Buches. Ein persönliches Buch, das auch ein Stück Selbstbefragung und Vergangenheitsaufarbeitung ist. Ein sprachlich elegantes, berührendes und fernab jedweder Vertriebenenverklärtheit geschriebenes Zeitzeugnis. Daniel Flügel
Olaf Ihlau stellt sein Buch im Gespräch mit Egon Bahr, Bundesminister a. D., am heutigen Dienstag um 18 Uhr im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, Am Neuen Markt 9, vor. Der Eintritt kostet 5, ermäßigt 3 Euro.
Daniel Flügel
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